# taz.de -- Radikale Autoerotik: Momentaufnahme des Selbst | |
> Selbstliebe trotz aller Unzulänglichkeit: Autoerotik kann helfen den | |
> Teufelskreis des Perfektionismus zu durchbrechen. | |
Bild: Die Beschäftigung mit sich selbst kann helfen, vermeintliche Fehler lieb… | |
Wenn es nach ein paar schlechten Tagen bergauf geht mit meiner Stimmung, | |
dann merke ich das immer daran, dass ich ein bisschen länger in den Spiegel | |
schaue. Nicht weil ich Schlieren entdeckt habe oder einen Pickel. Sondern | |
weil ich mich einfach anschaue. Mit einem friedlichen, unaufgeregten | |
Interesse an mir selber. | |
Ich rasiere mir dann die Ohren, bügele mir ein Outfit aus sanften | |
Herbstfarben und ziehe die guten Schuhe an. Die, die auf dem Boden | |
klackern. Und dann – mach ich nichts weiter. Ich gehe nicht aus, nicht | |
spazieren, mache keine Selfies. Ich nenne das radikale Autoerotik. Und fast | |
will ich das gar nicht mitteilen, denn das widerspricht eigentlich dem | |
Prinzip. | |
Autoerotik wird unglücklicherweise mit genau zwei Dingen assoziiert: | |
Voyeurismus und aus Versehen sterben. Letzteres, weil man bei „Autoerotik“ | |
im Netz fast nur Horror über strangulierte Promis findet; und Voyeurismus, | |
weil die meisten Darstellungen in der Kunstgeschichte von Menschen, die mit | |
sich selber Spaß haben, voyeuristisch sind. Das heißt, entweder ist ein | |
Betrachter gleich mit abgebildet, oder wir, die Betrachtenden, nehmen eine | |
voyeuristische Perspektive ein. Falls Sie ein Kunstwerk kennen, das es | |
besser macht, sagen Sie mir gerne Bescheid! | |
Radikale Autoerotik heißt nicht etwa, dass ich niemanden brauche. Dass wir | |
mit unseren Körpern Selbstversorger*innen sind, unabhängige Einzelstücke, | |
das ist wahrscheinlich eine Illusion. Die meisten von uns sind allosexuell, | |
das heißt, wir fühlen uns zu anderen Körpern hingezogen. Wir sind nicht | |
abhängig, wir sind anhänglich. | |
Selbstbild als Mangelwesen | |
Es geht mir bei der Autoerotik auch nicht darum, alleine klarzukommen. | |
Sondern darum, erst mal alleine klarzukommen. Es geht mir um die Lust an | |
der Momentaufnahme des Selbst. Ein Beispiel: Jederzeit könnte ich, ohne zu | |
zögern, eine Handvoll Dinge nennen, mit denen ich an mir unzufrieden bin. | |
Nur was den Bereich Sex angeht, meinen Körper, meine sexuelle | |
Zufriedenheit. Alles voller Defizite, Verbesserungswürdigem, offener | |
Fragezeichen. Bei Ihnen nicht? Herzlichen Glückwunsch. | |
Ich nehme mich als Mangel wahr, und zwar weil ich leider in der Lage bin, | |
mir ein Konzept von Vollständigkeit zu machen, von Perfektion. Das ist eine | |
leere Größe, aber ich fülle die Lücke mit Projektionen. Das Selbstbild als | |
sexuelles Mangelwesen macht, dass ich nach Möglichkeiten suche, meine | |
Mängel zu beheben. Ich strebe nach Befriedigung durch einen Partner oder | |
danach, einen Partner zu befriedigen, was mir dann wieder Bestätigung gibt. | |
Diesen Teufelskreis würde ich lieber nicht mitmachen. Stattdessen möchte | |
ich lieber den Mangel lieben. Kann man Lust an der Unzulänglichkeit haben? | |
Ich glaube, schon. Anstatt mich auffüllen zu wollen, will ich versuchen, | |
mich an meinen Fehlern aufzugeilen, mein Schämen zu lieben, Lust zu fühlen | |
an der Unfertigkeit. Und wenn das klappt – dann teile ich das auch gern mit | |
anderen. | |
9 Jan 2021 | |
## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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