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# taz.de -- Unmut gegen Corona-Einschränkungen: Die Verzichtsverweigerer
> Woher kommt die Wut derer, die sich nicht einschränken wollen? Ich
> glaube, der Grund ist die Erfahrung einer grundsätzlichen Erschütterung.
Bild: Für manche ein Zeichen des Widerstands: Explodierte Böller in einem Ham…
Während ich [1][an Silvester] zwei Staffeln der [2][englischen Serie
„Detectorists“] sah, wurde unten vor unserem Haus Widerstand geleistet –
gegen das von der Stadt Hamburg verhängte Feuerwerksverbot. Widerständig
war eine Familie, die aus einem Vater, einer Mutter und drei Kindern
bestand. Bereits gegen neun versammelten sie sich und blieben bis halb
eins. Sie zündeten ihr wertvolles Feuerwerk über den Abend verteilt, Stück
für Stück für Stück.
Ich weiß nicht, ob sie zwischendurch auch mal in ihre Wohnung gingen, aber
immer, wenn ich auf die Straße sah, waren sie da. Es knallte, es blitzte,
knatterte, zischte, und der Vater gebärdete sich immer toller. Er tanzte
auf der Straße und brüllte in Richtung seiner Kinder: „Silvester ist nur
einmal im Jahr!“ Gegen elf tauchten auf der gegenüberliegenden Straßenseite
drei Jugendliche auf, die Böller warfen. Begeistert schüttelte er die
Faust, schrie Parolen, als wären die Böllerjungs Widerstandskämpfer. Sie
freuten sich nur mäßig.
Um Mitternacht war der Familienvater, wie man das wohl ausdrückt, bereits
heiser: Heiser gab er seinen Kindern Anweisungen für das fachgerechte
Handhaben von Böllern; die Familienmutter, wie man das wohl nicht ausdrückt
– warum eigentlich nicht? – stand mürrisch mit verschränkten Armen im
Hintergrund. Gegen halb eins war die Widerstandsparty vorbei. Was für ein
rauschendes Fest. Das werden die Kinder nie vergessen. Silvester ist nur
einmal im Jahr. Und Neujahr übrigens auch, auch der 2. Januar, der 3. und
so weiter bis zum letzten Tag des Jahres. Alles Tage, die nur einmal im
Jahr sind. Ich habe immer wieder das unter der Straßenlaterne aufblitzende
Gesicht des verzweifelt begeisterten Vaters gesehen, der seinen Kindern und
der Welt zeigen wollte... ja, was? Dass er sich nichts verbieten lässt?
Ich habe in den vergangenen Tagen viel nachgedacht über diese ganze Sache,
diesen Unmut, dieses Aufbegehren, wenn es um einfache, nicht existenzielle
Dinge geht, wie zum Beispiel das In-den-Urlaub-Fahren, Ski, Shoppen. Jetzt
wollten viele Leute in den Harz, weil es da plötzlich so schönen Schnee
gab. Viel zu viele Leute stauten sich plötzlich in ihren Autos auf den
Straßen, und die Erklärungen dafür kann man in den Kommentarleisten
nachlesen: „Kein Wunder, wenn Merkel uns das ganze Jahr in Stubenarrest
schickt“, und mehr in der Art. Eingesperrt kommt man sich vor, gegängelt.
Der Mensch hat sich nun mal so einen Standard geschaffen. Jahr um Jahr ist
er am Morgen aufgestanden und zur Arbeit gefahren. Damit er sich ein Auto
kaufen konnte, ein Haus abzahlen, in den Urlaub fahren. Der Lebensstandard
muss steigen oder zumindest gehalten werden, das ist der Sinn des Lebens.
Und plötzlich ruckelt es im Getriebe, und der Mensch darf mit seinem Auto
nicht mehr in seinen Urlaub fahren. Ein Rückschritt. Da wird der Mensch
bockig. Und wenn der Mensch Kinder hat, dann sind es DIE KINDER, für die er
das alles tut und braucht: Die Kinder müssen in den Urlaub, die Kinder
müssen an Silvester vier Stunden auf der Straße stehen, die Kinder brauchen
Dinge, damit sie es schön haben.
Die meisten Menschen, die ich kenne, üben sich seit einiger Zeit in
Bescheidenheit. Sie müssten gar nicht in den Urlaub fahren, sagen sie.
Silvester zu Hause sei sehr schön gewesen, sagen sie, schöner eigentlich
als sonst, in den Jahren zuvor. Ihnen gehe es gut, sagen sie, sie
entbehrten nichts. Diese heitere Genügsamkeit ist ja das Gegenteil der Wut
derer, die nicht bereit sind, auf irgendetwas von den Dingen, die ihr Leben
bisher ausmachten, zu verzichten. Aber unser aller Leben ist von einer
Erschütterung betroffen, die mit Urlaub, Toilettenpapier und Skifahren
nichts zu tun hat: die Erfahrung, dass das Gerüst des Hauses, in dem wir
wohnen, nicht mehr stabil ist.
Offensichtlich reagieren Menschen unterschiedlich darauf. Für mich begann
dieses Jahr mit dem erbittert Feiernden unter meinem Fenster, ich hoffe, es
ist kein Omen.
6 Jan 2021
## LINKS
[1] /Corona-Silvester-in-Hamburg/!5736290
[2] https://www.arte.tv/de/videos/RC-020165/detectorists/
## AUTOREN
Katrin Seddig
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