# taz.de -- Soundtrack zu Michelle Obamas Doku: Subtil, präzise und ehrfürcht… | |
> Jazz erzählt Geschichte: Ungewohnt minimalistisch, wie bei Kamasi | |
> Washingtons Soundtrack „Becoming“zur Netflix-Doku über Michelle Obama. | |
Bild: Mal ohne Kanne: Kamasi Washington in Venice Beach | |
In so einer Situation kann es sogar einer Michelle Obama kurz die Sprache | |
verschlagen: Geschehen im Februar 2019 bei der Verleihung der Grammy | |
Awards. Die ehemalige First Lady hatte einen Überraschungsauftritt, kam | |
gemeinsam mit Lady Gaga, Alicia Keys, J. Lo und Jada Pinkett Smith auf die | |
Bühne, und der Reihe nach erzählten die fünf, was Musik für sie bedeutet. | |
Obama hatte ihre zum Bestseller avancierten Memoiren „Becoming“ wenige | |
Monate zuvor veröffentlicht und damit ihren Status als Ikone und | |
popstarhaftes Rollenvorbild für junge Frauen gesichert, wie sehr, wurde an | |
dem Abend überdeutlich. Sie, und keine der anderen, musste zweimal | |
ansetzen, bis sie sprechen konnte, weil ihre Worte zunächst in Jubel und | |
Applaus untergingen. Dann berichtete Obama von den Motown-Alben, die sie in | |
der South Side von Chicago, wo sie aufwuchs, rauf und runter gehört habe | |
und von den „Who runs the World?“-Songs, die sie in der vergangenen Dekade | |
angetrieben hätten. | |
„Musik“, so sagte Michelle Obama, „hat mir immer dabei geholfen, meine | |
Geschichte zu erzählen.“ Quasi einstimmig erklärten die Medien diesen | |
Moment gleich zu Beginn der Preisverleihung als deren eigentlichen | |
Höhepunkt. Wer sich diese Szene ebenfalls etwas genauer angesehen hat, ist | |
Kamasi Washington. Der [1][39-jährige US-Tenorsaxofonist] hat nun für die | |
Dokumentation zu Obamas „Becoming“ den Soundtrack beigesteuert. | |
Zu sehen gibt es diese bereits seit Mai auf Netflix, es ist einer von | |
mehreren Filmen, für die Michelle und Barack Obama mit der | |
Streamingplattform einen umfangreichen Vertrag abgeschlossen haben. Aber | |
jetzt erst erscheint die Musik unabhängig von dem Film, aber unter | |
ebendiesem Titel – und macht es einem beim ersten Anhören überraschend | |
schwer. | |
## Fast wie an der Hotelbar | |
Washington ist ein Künstler, der in den vergangenen fünf Jahren so | |
[2][grandios vorgelegt] hat, dass „Becoming“ zunächst irritiert. Es | |
irritiert, weil es so eingängig klingt, so vollkommen unaufdringlich, | |
beinahe wie Musik, die in einer Hotelbar gespielt werden könnte: nett | |
anzuhören, ohne zu sehr aufzuwühlen oder mitzureißen. Fast banal. Fast, | |
denn fast fühlt es sich ketzerisch an, das so zu schreiben. Und | |
grundsätzlich spricht ja auch nichts gegen die Musik, die in Hotelbars | |
gespielt wird, solange sie gut ist. Und gut ist Washington auch auf | |
„Becoming“. | |
Geboren in Los Angeles, unterstützte der studierte Musikethnologe als | |
Saxofonist zunächst andere Stars, bevor er sich vor gut fünf Jahren mit | |
seinem Instrument und dem Album „The Epic“ nach vorne katapultierte, in die | |
hipste Sphäre des Jazz, von der man bis dato womöglich nicht einmal wusste, | |
dass sie existiert. [3][„The Epic“] ist ein Album, das einen überwältigt, | |
egal wie oft man es hört, aufgenommen mit einem 32-köpfigen Orchester, | |
einer 10-köpfigen Band und einem 10-köpfigen Chor und mit Washington als | |
Hohepriester mittendrin. | |
## Spirituell aufgeladen | |
Euphorie auslösend, spirituell aufgeladen, genresprengend, wahrhaft episch, | |
auch was seine Länge angeht. Drei Stunden braucht man, um es sich von | |
Anfang bis Ende anzuhören. Und das auf keinen Fall nebenher. Ähnlich | |
monumental fiel der Nachfolger „Heaven & Earth“ aus. 2018 veröffentlicht, | |
ein Doppelalbum mit zweieinhalb Stunden Länge und selbstermächtigenden | |
Black-Power-Texten, die sich im Kopf festhaken. Diese Zeilen aus „Fists of | |
Fury“ zum Beispiel: „Our time as victims is over / We will no longer ask | |
for justice / Instead we will take our retribution.“ Und nun der Soundtrack | |
„Becoming“ mit knapp 30 Minuten und seinen kurzen Miniaturen, von denen | |
gerade mal ein Song überhaupt mehr als drei Minuten dauert. | |
Hat Netflix Washingtons Power weichgespült, gar weggespült? Tatsächlich | |
drängt sich im Dokumentarfilm, in dem Regisseurin Nadia Hallgren Michelle | |
Obama auf ihrer Lesereise zu „Becoming“ begleitet, bei Interviews und ihren | |
Gesprächen mit jungen, meist weiblichen Fans, Washingtons Musik kaum auf. | |
Vielleicht wollte er Obama einfach nicht die Show stehlen? Ihre vielleicht | |
doch etwas zu glatt geratene Inszenierung nicht stören? Oder mit noch mehr | |
Pathos noch mehr überladen? Zu hören ist Washingtons Sound meist an den | |
Stellen, wenn Obama ins Familienalbum blickt, von ihrer Schulzeit erzählt | |
oder davon, wie sie ihren Mann kennenlernte, von dessen Weg in die Politik, | |
vom Wahlkampf und der Zeit im Weißen Haus. | |
Und das jeweils perfekt auf die Szenerie abgestimmt: „Southside V.1“ etwa | |
läuft im Hintergrund zu Obamas Kindheitserinnerung in Chicagos berüchtigtem | |
Viertel South Side, einem Ort geprägt von sozialen Spannungen und brutaler | |
Gewalt, von dem aus man nicht mal eben so nach Princeton geht und in | |
Harvard promoviert, so wie Michelle Obama das gegen alle Widerstände | |
geschafft hat. Es ist ein souliger Song, funky und nostalgisch, inspiriert | |
vom geschmeidigen, mehrheitsfähigen Motown-Sound, den Obama als Kind | |
hörte. | |
Oder „Song for Fraser“, bei dem es sich wirklich um ein Lied für Fraser | |
handelt, Obamas Vater, eine Ballade, dessen herrlich-loungiges | |
Klaviergeklimper auf Frasers Jazz-Plattensammlung anspielt und sensibel die | |
Pausen füllt, wenn Mutter und Tochter sich austauschen, über die Präsenz | |
des Vaters, seinen knautschigen Ledersessel, seine MS-Erkrankung und seinen | |
Tod. | |
## Aufmerksamkeit und Unsicherheit | |
Musik, so hat es Obama bei den Grammys betont, habe ihr immer geholfen, | |
ihre Geschichte zu erzählen. Wörtlich genommen hat das Washington. Einen | |
Song gibt es auf „Becoming“, den man in anderer Version bereits kennen | |
könnte. „The Rhythm Changes“ stammt aus „The Epic“, ist dort allerdings | |
ganze sechs Minuten länger und mit Gesang versehen. | |
„The time, the season, the weather, / The song, the music, the rhythm, / It | |
seems, no matter what happens / I’m here“ haucht Sängerin Patrice Quinn im | |
Original. Wer sich daran erinnert, für den wird er noch besser passen zu | |
den Bildern der Präsidentschaftskampagne 2008, zu dem, was Beraterin | |
Melissa Winter über die Michelle Obama von damals erzählt, über deren | |
Unsicherheit, mit der für sie neuen Aufmerksamkeit zurechtzukommen und dem | |
Misstrauen, das ihr begegnete. | |
Die dramatischen Spannungsbögen, die einen auf „The Epic“ und „Heaven & | |
Earth“ mit voller Wucht umgeworfen haben, sie begegnen einem auf „Becoming�… | |
subtiler, gezähmter. Die musikalischen Landschaften, die Washington sonst | |
in gestischen Pinselstrichen malte, die zeichnet er nun sanfter, präziser. | |
Virtuos ist auch das, nur eben anders, wenn man so will dem Film | |
entsprechend, seiner Wehmut, mit der auf eine vergangene Zeit und die damit | |
verbundenen Hoffnungen zurückgeblickt wird. | |
## Zurück zu alter Tiefe | |
Erst spät im Film und auf dem Album, bei „Provocation“, findet Washington | |
zu alter Stärke und Tiefe zurück. Der Song unterstreicht mit seinem | |
dramatischen Einstieg und seinem düsteren Pathos Obamas Bericht von dem | |
Rassismus, der ihnen als First Couple entgegenschlug – und er knüpft trotz | |
aller Kürze an die großen, experimentellen Stücke vorheriger Alben an. Für | |
einen Emmy hat es für „Becoming“ in diesem Jahr übrigens nicht gereicht. | |
Der Preis für die beste Musikkomposition in einer Dokumentation ging an | |
Laura Karpman für Steven Spielbergs sechsteilige Reihe „Why We Hate“. | |
Die Grammys, für die der Soundtrack ebenfalls nominiert ist, stehen noch | |
aus, doch auch dort ist die Konkurrenz beachtlich. Ob Kamasi Washington da | |
bestehen kann, wird sich herausstellen. Und auch, hoffentlich, wann es | |
wieder ein reguläres Album von ihm geben wird. | |
10 Dec 2020 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Beate Scheder | |
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