# taz.de -- Umgestaltung des Schulsystems: Indien reformiert Bildungswesen | |
> Das indische Bildungssystem braucht Reformen. Doch in der Pandemie | |
> beschließt die Regierung eine Richtlinie, die Ungleichheit verstärken | |
> könnte. | |
Bild: Unterricht für Grundschulkinder in einem Slumgebiet am Stadtrand von Jam… | |
MUMBAI taz | Seit über acht Monaten bekommt der sechsjährige Agastya seine | |
Hausaufgaben auf das Handy seiner Mutter geschickt. Vijaya Yewle, die | |
Anfang dreißig ist, weiß wie viele andere Eltern und Lehrer:innen nicht, | |
wann genau die Schule wieder richtig beginnt. In vielen Teilen des Landes | |
wie in der [1][Metropole Mumbai] sind die unteren Jahrgangsstufen aufgrund | |
der Coronalage weiterhin geschlossen. Statt fünf Stunden Präsenzunterricht | |
hat Agastya nun maximal eine Stunde Onlineunterricht. | |
Für die älteren Jahrgänge soll es wohl im neuen Jahr wieder losgehen. Im | |
krisengeschüttelten Gebiet Jammu und Kaschmir gibt es manchmal Unterricht | |
im Freien, andernorts laufen engagierte Lehrer:innen Wohnhäuser ab, um | |
Kinder gelegentlich zu unterrichten. Wieder andere versuchen, den | |
Unterricht online zu gestalten. | |
Vielerorts hatte die Pandemie den Alltag fest im Griff, als das indische | |
Kabinett am 29. Juli eine Neuausrichtung der Bildungspolitik mit dem Namen | |
„National Education Policy“ (NEP) billigte. Nach 34 Jahren soll das | |
Schulsystem grundlegend umgestaltet werden: Bildungsabschnitte werden neu | |
gegliedert, die Vorschulzeit beginnt für Kinder dann bereits ab drei | |
Jahren. | |
Prüfungsrelevante Anforderungen sollen landesweit und zentral | |
vereinheitlicht werden. Vorgesehen ist außerdem, dass der Unterricht bis | |
zur fünften Klasse in Regional- und Muttersprachen anstatt auf Englisch | |
stattfindet. „Wir stellen fest, dass Englisch nicht die internationale | |
Sprache geworden ist, wie man es in den 1960er Jahren erwartet hatte“, | |
heißt es in einem Auszug des NEP zur Begründung. | |
Geplant sind weiterhin die Öffnung der Hochschulbildung für ausländische | |
Universitäten sowie Änderungen bei Hochschulabschlüssen. So wird etwa der | |
Abschluss Master of Philosophy, vergleichbar mit einem Magister, nicht | |
weitergeführt. Damit hat sich die Zeit für Doktorand:innen um zwei Jahre | |
verkürzt, bis sie die Eignungsprüfung zur Promotion ablegen können. Die | |
Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, die Reform bis 2040 umzusetzen. | |
Noch wird die Debatte um die Auswirkungen der umfangreichen Neuausrichtung | |
nur am Rande geführt, viele Lehrer:innen und Eltern haben sich bisher wenig | |
mit der Reform befasst. Doch schon jetzt ist klar: Obwohl Reformen | |
notwendig sind, wie etwa bei der Lehrerausbildung, die die NEP ebenfalls | |
umfasst, begrüßen nicht alle die bevorstehenden Änderungen. Kritiker:innen | |
befürchten, dass die Zentralregierung im neuen System die Lehrinhalte | |
bestimmen wird und sich soziale Ungleichheit verstärkt. | |
„Die neue Politik hat kein Verantwortungsbewusstsein gegenüber Kindern, | |
Gleichheitsanspruch, Integration oder Qualität“, sorgt sich etwa Anita | |
Rampal, Professorin und ehemalige Dekanin der Fakultät für | |
Erziehungswissenschaften an der Universität Delhi. Die öffentlichen Schulen | |
hätten damit zu kämpfen, dass sie oftmals keinen guten Ruf genießen und | |
Privatschulen mit günstigen Schulgebühren aggressiv vorangetrieben werden, | |
erklärte sie gegenüber der Nachrichtenseite IndiaSpend. | |
Bei geringerer Nachfrage an staatlichen Schulen, an denen Kinder | |
kostenloses Mittagessen, Bücher und Uniformen erhalten, kann der Staat | |
Kosten reduzieren. Rampal sieht das Recht auf Bildung in Gefahr: Mit der | |
Reform werde nur der private Bildungsbereich weiter zunehmen, den sich | |
nicht jeder leisten kann. | |
## Privater Bildungsmarkt wächst rasant | |
Fast jede:r zweite der 260 Millionen Schüler:innen in Indien besucht | |
bereits jetzt eine private Schule. Sie verlangen teilweise nur niedrige | |
Gebühren und sind angesehener als die öffentlichen. Doch auch | |
Privatschüler:innen haben oft Schwierigkeiten beim Lesen oder Rechnen. | |
Viele Kinder – aller Klassenstufen und aus verschiedensten | |
Familienverhältnissen – gehen nach der Schule zur Vorbereitung auf die | |
Jahresabschlussprüfung zur Nachhilfe. Der private Bildungsmarkt wächst | |
rasant. | |
Gleichzeitig wurde seit 2014, als die hindu-nationalistische BJP-Regierung | |
die Wahlen gewann, am Bildungssystem gespart. Mit der Reform gab die | |
Regierung erstmals eine Anhebung der Bildungsausgaben bekannt. | |
Auch Pater Frazer Mascarenhas, der zwölf Jahre lang Rektor des angesehenen | |
Mumbaier College St. Xavier’s war und derzeit am jesuitischen St. | |
Stanislaus College in Mumbai tätig ist, fürchtet, dass die National | |
Education Policy die Bildungschancen ärmerer Kinder verschlechtert. Er hat | |
sich mit seinen Kollegen über die Reform ausgetauscht – und ein eindeutiges | |
Fazit gezogen: Mit der neuen Bildungspolitik ist er „überhaupt nicht | |
zufrieden“. | |
Es sei eine immense Aufgabe, die geplanten Änderungen umzusetzen – was die | |
Privatisierung des Bildungswesens weiter vorantreiben werde. Diese | |
Entwicklung zeichne sich bereits in anderen Bereichen wie Gesundheit, | |
Telekommunikation oder Landwirtschaft in Indien ab. „Das wird den ärmeren | |
Menschen im Land viele Probleme bereiten“, fürchtet der Pater. „Vielleicht | |
wird eine kleine Gruppe der oberen Mittelschicht davon profitieren“, sagt | |
er, „aber nicht die Mehrheit.“ | |
## Autonomie der Schulen eingeschränkt | |
Der Pater kritisiert auch, dass die Zentralregierung nun stärker in die | |
Bildungspolitik der Bundesstaaten und die Autonomie der Schulen eingreift. | |
Bei der Reform handele es sich um eine Art Übernahme aller Schulen und | |
Hochschulen, was einer Form der Verstaatlichung und starken Zentralisierung | |
des Bildungssystems gleichkommt, warnt er. | |
Bisher waren etwa Schulen für religiöse und ethnische Minderheiten in ihrer | |
Unterrichtsgestaltung recht frei, solange der vom Staat vorgeschriebene | |
Rahmenlehrplan eingehalten und Schüler:innen bei den jährlichen Prüfungen | |
gut abgeschnitten haben, erklärt Frazer Mascarenhas. Jetzt würden | |
Bundesstaaten wie Schulen stark in ihrer Mitgestaltung eingeschränkt. Die | |
gesamte Verwaltung werde bald von der Regierung übernommen, kritisiert er. | |
Das sei aufgrund der kulturellen, geschichtlichen wie sprachlichen Vielfalt | |
Indiens nicht angemessen. | |
Sunil Bhaskar Patil, Leiter einer örtlichen Grundschule in Mumbai, hat | |
Verständnis für die Ambitionen des Premierministers: „Er hat eine Vision | |
für das indische Bildungssystem.“ Dennoch denke er, „dass Altbewährtes hi… | |
besser wäre“ und bedauert die Einschränkung der Mitsprache bei | |
Lerninhalten. Hingegen begrüßt der Schulleiter, dass handwerkliche | |
Fähigkeiten oder Sport gestärkt werden sollen. | |
Neben der Vereinheitlichung des Lehrplans sieht die neue nationale | |
Bildungspolitik vor, Unterricht verstärkt in Regionalsprachen abzuhalten. | |
Auch dies ist umstritten. Kritiker:innen bemängeln, dass gerade Kinder aus | |
benachteiligten Verhältnissen abgehängt werden, wenn der Englischunterricht | |
gestrichen wird: Für sie schwinden damit die Chancen auf eine höhere | |
Bildung. Genug aufzuholen, um auf ein College zu kommen und später einen | |
der begehrten Berufe auszuüben, sei fast nicht mehr möglich, weiß Pater | |
Frazer Mascarenhas. | |
## Englisch als Voraussetzung für spätere Berufschancen | |
Denn zumindest formal findet die gesamte höhere Bildung in Indien auf | |
Englisch statt. Auch Eltern, die beruflich oft umziehen, sehen darin | |
Nachteile, wenn Grundschulen flächendeckend auf lokale Sprachen umsatteln. | |
Umgekehrt könnte es für viele kleinere Schulen angesichts starker | |
Binnenmigration zum Problem werden, wenn Schüler:innen das Recht auf | |
Unterricht in ihrer Muttersprache hätten. | |
Vijaya Yewle hat ihren Sohn Agastya an einer englischsprachigen Schule in | |
Mumbai angemeldet. Die meisten Fächer werden auf Englisch unterrichtet, | |
manchmal gibt es noch Anweisungen auf Marathi, einer der lokalen Sprachen | |
Mumbais. Zu Hause spricht die Familie hauptsächlich Marathi, deshalb ist es | |
für Agastya nicht immer leicht, den Unterricht zu verstehen. | |
Yewle ist dennoch sicher, die richtige Wahl für ihren Sohn getroffen zu | |
haben: „Meine eigene Ausbildung fand in Marathi statt“, erklärt sie, „Ich | |
habe das Gefühl, dass ich viele Chancen im Leben verpasst habe, weil ich | |
nicht fließend Englisch spreche, und in dieser wettbewerbsorientierten Zeit | |
ist Englisch einfach ein Vorteil.“ | |
Viele Pädagogen wie Sunil Bhaskar Patil sind hingegen der Meinung, dass der | |
Grundschulunterricht in der Muttersprache oder in der lokalen Sprache | |
stattfinden sollte, so wie auch die neue Empfehlung im Zuge von NEP lautet. | |
„Die Muttersprache hilft den Schülern, Konzepte besser zu verstehen“, | |
erklärt der 49-Jährige. | |
## Hindu-nationalistischer Regierungskurs | |
Doch den Unterricht verstärkt in den vorherrschenden Regionalsprachen | |
abzuhalten, das wird de facto heißen: Den Unterricht in Hindi auszubauen. | |
Hindi ist die am weitesten verbreitete der 22 anerkannten Sprachen in | |
Indien. Englisch dient bislang als Verkehrssprache auf dem Subkontinent, | |
vor allem zwischen Norden und Süden. Versuche der Regierung, Hindi im Zuge | |
ihres hindu-nationalistischen Kurses als Unterrichtssprache zu etablieren, | |
wurden bisher vor allem in den südlichen Bundesstaaten zurückgewiesen: Etwa | |
200 Millionen Inder:innen im Süden bevorzugen Englisch als Zweitsprache. | |
Unabhängig davon gibt es in allen Regionen Indiens Minderheitenschulen. So | |
unterrichten [2][muslimische] Schulen vor allem auf Urdu, christliche auf | |
Englisch, weitere Unterrichtssprachen sind Sindhi, Gujarati oder Telugu. | |
Pater Frazer Mascarenhas befürchtet, dass insbesondere diese Einrichtungen | |
ihre Autonomie einbüßen müssen – was auch bedeuten könnte, dass | |
beispielsweise die Sprachen von regionalen Minderheiten weniger im | |
Unterricht verwendet werden. | |
An der Regierung prallt die Kritik an ihrer „Vision des neuen indischen | |
Bildungssystems“ allerdings ab. Wie die genaue Ausgestaltung der neuen | |
Lehrpläne und deren Umsetzung aussehen könnte, soll im neuen Jahr | |
bekanntgegeben werden. Dann werden vielleicht auch Rektor Patil, Frazer | |
Mascarenhas und der kleine Agastya wissen, was sich für sie ändern wird. | |
22 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Natalie Mayroth | |
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