Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- China nach der Coronapandemie: Wuhan, ein Jahr danach
> Im einstigen Corona-Epizentrum herrscht wieder Normalität. Die
> chinesische Regierung nutzt die Erfolgsgeschichte für ihre Zwecke.
Bild: Perfekt choreografierte Inszenierung: Eine Ausstellung in Wuhan zeigt den…
Wie jeden Morgen grüßt Dong Haokun beiläufig den alten Pförtner am
Eingangstor, ehe er den mit Werbung zugepflasterten Fahrstuhl betritt. Im
28. Stock angekommen, sperrt der 37-Jährige die Metalltür seines
Tanzstudios auf. Gleißende Morgensonne durchflutet den Raum mit Licht,
durch die bodentiefen Fenster reicht der Blick von der geschäftigen
Jianghan-Straße bis hin zum Ufer des Jangtse-Flusses. „In Wuahn bin ich
geboren, aufgewachsen und hier habe ich auch studiert“, sagt Dong sichtlich
stolz, während er mit kerzengrader Haltung auf die Dächer seiner
Heimatstadt blickt.
Dass [1][Wuhan vor einem Jahr zum Synonym für eine Pandemie geworden] ist,
die das gesamte Weltgeschehen von Grund auf verändert hat, scheint in
Momenten wie diesen ein eher abstrakter Gedanke zu sein. Mehrere Monate
liegt die letzte registrierte Infektion in Wuhan zurück. Wer durch die
Flaniermeilen, Einkaufszentren oder Nachtmärkte der 11-Millionen-Metropole
schreitet, wird nur mehr durch die Masken auf den Gesichtern der Menschen
an [2][das Coronavirus] erinnert.
Auch das Leben von Tanzlehrer Dong Haokun wird wieder von ganz gewöhnlichen
Alltagspflichten bestimmt: In wenigen Minuten werden die ersten Kundinnen
in sein Studio im 28. Stock strömen, für Unterricht in orientalischem
Bauchtanz.
Angesichts des Normalzustands der zentralchinesischen Stadt wirken die
Schlagzeilen vom letzten Januar geradezu surreal: Bilder von erschöpften
Ärzten gingen um den Globus, offene Leichensäcke in überfüllten
Krankenhausgängen und Menschenmengen in Panik. Keine Bevölkerung hat wohl
einen derart drastischen Lockdown über sich ergehen lassen müssen wie Wuhan
in den darauf folgenden Monaten: Über zehn Wochen lang waren die
verbliebenen sechs Millionen Einwohner in ihren Wohnungen eingesperrt.
Weder Busse noch Autos sind mehr auf den Straßen gefahren, sämtliche
Autobahnzufahrten wurden abgeriegelt.
## Auslandsstudium in Deutschland abgesagt
Wie also blicken die Wuhaner knapp ein Jahr später auf das kollektive
Trauma zurück? Dong Haokun atmet einmal tief durch. „Jeden Morgen war
damals das Erste, was wir taten, die Anzahl von Neuinfektionen
nachzuschauen und wie viele Leute gestorben sind“, erinnert er sich. Doch
das Leben musste trotz allem weitergehen. Yoga und Meditationsübungen haben
seinen Geist beruhigt, mit einem zweiten Standbein als
Online-Devisenhändler konnte er während des Lockdowns sogar ein wenig
dazuverdienen.
Natürlich habe die dunkle Zeit des Lockdowns aber auch Narben hinterlassen.
Dong Haokuns 90-jährige Großmutter erlitt am 2. März einen Herzinfarkt,
seither ist sie regungslos ans Bett gefesselt. „Wie eine Pflanze“, sagt er:
„Ich bereue es, sie zuvor nicht noch einmal gesehen zu haben. Ich kann mir
nicht mal sicher sein, ob sie mich heute überhaupt noch erkennt“, sagt er.
Nur einen Steinwurf von Dongs Tanzstudio entfernt zeigt sich Wuhan, eine
selbst in China eher unscheinbare Industriestadt, von seiner charmantesten
Seite: Im alten Kolonialviertel werden die begrünten Gassen von
historischen Art-Déco-Gebäuden und Street-Art-Kunstwerken gesäumt, am
Flussufer des Jangtse lassen Senioren ihre buntbemalten Drachen steigen,
und im Geschäftsviertel des Bezirks Hankou ziehen Hunderte Baukräne neue
Wolkenkratzer in den blauen Dezemberhimmel. Erst bei näherer Betrachtung
kann man die geschlossenen Ladenzeilen erkennen – von Geschäften, die den
Lockdown nicht überlebt haben.
„Letztes Jahr hatten wir noch feste Ziele und Träume im Leben, aber jetzt
geht es erst mal ums Überleben“, sagt Wang Jun, ein schlaksiger
20-Jähriger, der sich vor allem für amerikanischen Basketball, deutsche
Sportwagen und ausgefallene Sneaker-Schuhe interessiert. Kurz vor dem
Lockdown hat Wang sein Diplom zum Kfz-Mechatroniker abgeschlossen, im
Sommer hätte er nun für seinen zweiten Abschluss an die Fachhochschule
Stralsund gehen sollen. Die Pandemie, die mittlerweile in Deutschland
wütet, hat ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Viele von
Wang Juns Klassenkameraden aus Wuhan, die ebenfalls nach Europa wollten,
mussten ihre Pläne auf Eis legen – ein ironischer Schwenk der Geschichte.
„Einige haben sich in der Zwischenzeit von der Armee verpflichten lassen“,
sagt Wang.
## Narrativ ohne Grautöne
Er selbst hat mit seiner Freundin im Souterrain eines englischen
Jugendstilhauses ein hippes Wohnzimmer-Café eröffnet. Die beiden bieten
Latte macchiato und Franziskaner-Weißbier an, viele Gäste kommen aber vor
allem wegen „Mao Mao“, „Xiaodi“ und „Boss“ – drei ehemaligen Stra…
Während Wang Jun gerade Nürnberger Bratwürste zubereitet und von seinem
Lieblings-Basketballteam der „Golden State Warriors“ spricht, lässt er wie
beiläufig einen bemerkenswerten wie archetypischen Satz fallen: „Durch den
Lockdown haben wir gesehen, dass das chinesische System sehr gut darin ist,
eine Pandemie zu meistern. Viele Ausländer reden zwar von Freiheit und dass
sie jeden Tag rausmüssen. Aber das Ergebnis ist, dass man so das Virus eben
nicht kontrollieren kann.“
Wang steht bei Weitem nicht alleine mit seiner Meinung da. Während in fast
jedem Land der Welt die chinesische Staatsführung im Coronajahr an
Sympathiepunkten eingebüßt hat, konnte sie innerhalb der eigenen
Landesgrenzen ihre Stellung weiter festigen – wegen, nicht trotz der
Pandemie.
Natürlich lässt sich ein Jahr nach Ausbruch des Virus festhalten, dass
Chinas Regierung mit ihren drastischen, aber unheimlich effizienten
Maßnahmen das Infektionsrisiko im Land fast ausgelöscht hat. Seit Monaten
registrieren die Behörden nur vereinzelte Ansteckungen, die sofort durch
gezielte Lockdowns und Massentests lokal eingegrenzt werden können. Darauf
kann die Bevölkerung zu Recht stolz sein, schließlich hat sie mit Disziplin
und Gemeinschaftssinn zum epidemiologischen Erfolg erheblich beigetragen.
Gleichzeitig jedoch zeigen die Lobeshymnen aufs eigene System auch, wie
perfekt die Propaganda des Zensurapparats funktioniert. Denn die
chinesische Regierung hat nicht nur das Virus kontrolliert, sondern
ebenfalls das Narrativ darüber: Wuhans Kampf ist zu einer heroischen
Erfolgsgeschichte ohne jegliche Grautöne erklärt worden.
Erzählt wird diese eine halbe Autostunde nördlich von Wuhans Stadtzentrum
entfernt, in einem überdimensionalem Messezentrum. „Bitte sprechen Sie
nicht mit den Leuten, Interviews sind verboten“, sagt die Rezeptionistin,
nachdem sie das Journalistenvisum des ausländischen Korrespondenten
inspiziert hat. Was in den fußballfeldgroßen Ausstellungsräumen folgt, ist
eine perfekt choreografierte Inszenierung der Kommunistischen Partei als
Retter des Volks. Bereits am Eingang begrüßt ein überdimensionaler
Staatschef Xi Jinping die Besucher, sein Konterfei wird alle paar Meter zu
sehen sein. Zwischen Krankenhausbetten, Rettungswagen und dokumentarischen
Fotos lugt immer auch die Fahne der Partei hervor.
Auf Informationstafeln wird die wenig subtile Botschaft mit dem
Vorschlaghammer eingebläut: Die Partei mit Xi an der Spitze hat den
„historischen“ Kampf gegen die Epidemie „zum frühestmöglichen Zeitpunkt…
geleitet. „Der strategische Erfolg hat die starke Führung der
Kommunistischen Partei Chinas und die bedeutsamen Vorteile des
sozialistischen Systems weiter gefestigt“, heißt es an anderer Stelle.
Dass die Regierung jedoch zu Beginn der Pandemie Virusproben vernichten
ließ und warnende Ärzte mit einem Maulkorb versehen hat, wird mit keinem
Wort erwähnt. Auch die Bürgerjournalisten, die lediglich aufgrund ihrer
Berichterstattung in Wuhan seit Monaten in Gefängniszellen ausharren
müssen, werden unter den Teppich gekehrt.
„Natürlich hat die Regierung nach dem Lockdown das Virus erfolgreich
eingedämmt, aber dennoch ist eine solche Ausstellung nichts weiter als eine
vereinfachende Heldengeschichte“, sagt die Sozialarbeiterin Guo Jing, die
im letzten November nach Wuhan gezogen ist. Dass der Staat die
Geschichtsschreibung über den Covid-Kampf vollständig kontrolliere, glaubt
die 29-Jährige nicht: „Die persönlichen Erfahrungsberichte, die die
Menschen auf sozialen Medien veröffentlicht haben, werden nicht aus dem
Gedächtnis verschwinden. Viele Geschichten haben trotz der Kontrolle und
Zensur ihren Weg ins Internet gefunden“.
## Normal, aber nicht wie vorher
Guo Jings „Wuhan-Tagebuch“ zählte zu den populärsten Geschichten der
Stadtbewohner: In 77 Einträgen hat sie die Zeit vom 23. Januar bis zum 8.
April dokumentarisch festgehalten. „Ich wusste nicht, was zu tun ist, als
ich aufwachte und vom Lockdown erfuhr“, beginnt der erste Eintrag: „Freunde
haben mir dazu geraten, meine Vorräte aufzustocken. Reis und Nudeln sind
beinahe ausverkauft.“
Nahezu ein Jahr später erzählt die Aktivistin von den gesellschaftlichen
Nebenwirkungen jener Zeit: „Der Lockdown hat meiner Meinung nach Frauen
viel stärker getroffen – angefangen bei den Haushaltspflichten und der
Kinderbetreuung, die meist bei den Frauen hängen blieb“, sagt Guo. Auch
wenn es keine belastbaren Zahlen zu dem Thema gebe, habe im Frühjahr auch
die häusliche Gewalt deutlich zugenommen. Viele Ehefrauen seien während des
Lockdowns ihren gewalttätigen Partnern hilflos ausgeliefert gewesen, und
viele Nachbarn hätten das Problem schlicht als Privatangelegenheit
ignoriert. Mit Online-Webinaren hat Guo Jing versucht, die Öffentlichkeit
zu sensibilisieren. Gemeinsam mit Bekannten haben sie Handbücher in der
Nachbarschaft verteilt, um über Notrufhotlines zu informieren.
Das Gefangensein in den eigenen vier Wänden gehört jedoch in Wuhan längst
der Vergangenheit an. Selbst die Krankenhäuser operieren wieder auf
Normalbetrieb, wie der Ortsbesuch in einem Universitätsspital im Süden der
Stadt zeigt: Ein einzelner Pförtner mit roter Armbinde kontrolliert die
„Corona-App“ der Besucher, in der Eingangshalle warten Dutzende Patienten
dicht an dicht gedrängt auf ihre Wartenummer.
Eine Ärztin, die anonym bleiben möchte, führt durch die hektischen Gänge in
ihr Büro. Dort stapeln sich die Geschenkpakete, welche sie von dankbaren
Patienten nach wie vor erhält. Musste die Endfünfzigerin noch im Frühjahr
über Tod und Leben entscheiden, hat sich ihr Arbeitsalltag längst wieder
normalisiert. „Doch die Pandemie hat das Denken der Leute stark verändert“,
meint die Medizinerin: „Freunde, die ich zuvor nur ein Mal im Jahr gesehen
habe, rufe ich nun regelmäßig an. Auch mit meinen Kollegen treffe ich mich
oft und weiß das zu schätzen. Und die Blume am Wegesrand, die ich wohl
früher ignoriert hätte, schaue ich mir mittlerweile mit voller
Aufmerksamkeit an.“
24 Dec 2020
## LINKS
[1] /Corona-in-Wuhan/!5675252
[2] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
## AUTOREN
Fabian Kretschmer
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Wuhan
Schwerpunkt Coronavirus
China
Podcast „Vorgelesen“
China
Filmgeschichte
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Pressefreiheit in China: Vier Jahre Haft für Journalistin
Die Journalistin Zhang Zhan ist verurteilt worden, weil sie über das
Coronavirus in Wuhan berichtet hatte. Ihr Zustand sei „extrem schlecht“.
Berlinale 2021 und Corona: Ein pandemietaugliches Modell
Die Berlinale 2021 fällt nicht aus. Aber sie findet diesmal zweigeteilt
statt: digital und normal – und zeitversetzt. Kann das gut gehen?
Ein Jahr nach dem Covid-Ausbruch: Wie China triumphiert
Die Coronapandemie scheint in China überwunden und die Wirtschaft boomt.
Der Westen muss sich 2021 auf eine aggressive Großmacht einstellen.
Corona-Impfstoff im Globalen Süden: Eine Frage der Herkunft
In Deutschland wird darüber diskutiert, wer zuerst gegen Corona geimpft
wird. Doch nicht alle Länder haben den gleichen Zugang zu Impfstoffen.
Zulassung für Corona-Vakzin: EU lässt Impfstoff zu
Nach der Europäischen Arzneimittelbehörde hat auch die EU-Kommission den
ersten Corona-Impfstoff durchgewunken. Jetzt beginnt ein Kaufwettlauf.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.