# taz.de -- Wie 2021 besser werden könnte: Der Anfang ist das Wort | |
> Ich bin voller Hoffnung für das nächste Jahr. Der Auslöser dafür ist eine | |
> kleine Nachricht über eine Initiative zur Verbesserung der | |
> Sprachkompetenz. | |
Bild: Muss sein: Lesen lernen | |
Was ist das für ein Jahr gewesen?! Aber ich bin voller Hoffnung. Ich weiß | |
gar nicht, warum. Ich war das ganze Jahr hindurch nicht voller Hoffnung. | |
Vielleicht liegt es an der Sonne, die heute scheint. Vielleicht daran, dass | |
ich mich gestern mit meinen Freundinnen traf, online natürlich. Und jetzt | |
suche ich also nach einer guten regionalen Nachricht für eine gute | |
Jahresabschluss-Kolumne: 130 Hamburger Schulen beteiligen sich an der | |
Bund-Länder-Initiative zur Verbesserung der Sprachbildung sowie der Lese- | |
und Schreibförderung „BiSS-Transfer“. Neue Lernmethoden sollen eingeführt | |
werden, damit die Schüler*innen besser mit Texten zurecht kommen. Der | |
Hamburger Schulsenator Ties Rabe ist darüber sehr erfreut. Das ist die | |
Meldung, die mich interessiert, und ich weiß natürlich nicht, wie hilfreich | |
dieses Konzept ist. Aber, dass es notwendig ist, davon bin ich überzeugt. | |
Ich habe in Hamburg mehrere Projekte des Schulhausromans betreut und habe | |
einen (selbstverständlich unvollkommenen) Eindruck gewonnen, wie es mit der | |
Lese- und Schreibkompetenz in Hamburger Stadtteilschulen so aussieht. Ich | |
war, gelinde gesagt, erschrocken. | |
Ich bin zu einer Zeit und in einem System zur Schule gegangen, in der das | |
Schreiben- und Lesenlernen in den ersten Jahren oberste Priorität hatte. | |
Nach vier Jahren konnten alle Schüler*innen meiner Klasse richtig schreiben | |
und gut lesen, selbst die schlechtesten. Das ist jetzt anscheinend anders. | |
Selbst Oberstufenschüler*innen am Gymnasium sind meiner Erfahrung nach | |
nicht sicher in der Rechtschreibung und keine versierten Leser*innen. | |
Ich will jetzt gar nicht auf das Bildungssystem schimpfen. Möglicherweise | |
lernen die Schüler*innen heute andere Dinge, als wir, vielleicht sogar mehr | |
und vielleicht sind sie sogar auf eine andere Art gebildeter als wir es | |
damals waren. Die Prioritäten einer Gesellschaft ändern sich. | |
Aber ich bin dennoch für das Schreiben und noch mehr für das Lesen. Ich | |
meine, es ist etwas, was man so sicher beherrschen sollte, wie das | |
Schnürsenkel-Binden. Selbst, wenn die Menschheit irgendwann mit | |
Klettverschlüssen herumläuft und es eine alternative Rechtschreibung geben | |
sollte. | |
Und diese Rechtschreibung gibt es ja schon, in den Chats, in den | |
Kommentarleisten, bei WhatsApp, in den Messenger-Diensten. In dieser | |
schnellen, pragmatischen Welt, die durchaus auch poetisch sein kann, geht | |
es vor allem darum, verstanden zu werden. Und das ist ja auch der Sinn von | |
Kommunikation. Aber darüber hinaus gibt es die Kommunikation von Schönheit | |
und Wahrheit, die nur komplexer zu haben sind. | |
Die Schönheit und die Wahrheit von Honoré de Balzac und Marcel Proust, von | |
Emily Brontë und Jane Austen und vieler, vieler anderer. Die Sprache ihrer | |
Romane ist historisch, sie braucht Bildung, und solche Romane brauchen | |
Ausdauer. Wenn unsere Kinder oder Enkel nicht mehr in der Lage sein werden, | |
solche Bücher zu lesen, dann werden diese Romane irgendwann nicht mehr | |
verfügbar sein. Dann wird die Fähigkeit, anspruchsvolle Texte zu lesen, | |
höchstens noch in akademischen Kreisen als Studienaufgabe überleben. | |
Und es geht ja nicht nur um anspruchsvolle Romane. Es geht um die Fähigkeit | |
zum Lesen und Schreiben überhaupt. Wissenschaftliche, politische Texte | |
müssen auch gelesen werden können. | |
Demokratie erfordert, dass man Argumentationen folgen kann, um sich eine | |
fundierte Meinung bilden zu können. Lesekompetenz ist eine wichtige | |
Voraussetzung, auch für das Funktionieren der Demokratie. Die Hirne der | |
Menschen müssen so sein, dass sie Argumenten folgen können, Sachverhalte | |
erfassen, Schönheit sehen, Konflikte verstehen, und dafür braucht es | |
Ausdauer, die Fähigkeit, zu differenzieren, und Geduld, sich Gedankengänge | |
entwickeln zu lassen, lange, gespannte Aufmerksamkeit, auch ohne, dass alle | |
zwei Sekunden etwas anregend explodiert. | |
Ich fürchte für diese Fähigkeiten. Und ich schlage allen Menschen zum | |
Jahresende vor: Lesen und Vorlesen! Kluge Menschen, im besten Sinne des | |
Wortes, das ist es, was ich mir für das neue Jahr am allermeisten wünsche. | |
23 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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