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# taz.de -- Zum Tod von Christoph Schlingensief: Die berührende Kraft der Kunst
> Produktiver Zweifler und unterhaltsamer Intellektueller: Christoph
> Schlingensief hat den Provokateur gegeben, wo immer man den Provokateur
> von ihm wollte.
Bild: Christoph Schlingensief: Rebell der Republik und ein großer Theatermann:…
Als Kind malt man sich manchmal aus, wie wohl die eigene Beerdigung wäre;
wie traurig dann alle die wären, die einem im Leben immer unrecht tun. Und
man tröstet sich so ein wenig über das eigene Unglücklichsein hinweg. Sich
etwas von diesem geträumten Trost noch in sein reales Leben hineinzuholen,
ist Christoph Schlingensief mit jenen drei Inszenierungen gelungen, in
denen er seine Angst vor dem Tod und die Wut über die Ungerechtigkeit der
Krankheit Krebs verhandelte: "Der Zwischenstand der Dinge", "Die Kirche der
Angst vor dem Fremden in mir" und "Mea Culpa". Er gab seinem Publikum und
dem Theater damit den Glauben an eine berührende Kraft der Kunst zurück,
und verwandelte das Unglück der Krankheit öffentlich in eine Erfahrung des
Glücks, von allen geliebt zu werden. Das war vor zwei Jahren. Am Samstag
ist er mit 49 Jahren seiner Krankheit erlegen.
Als "Der Zwischenstand der Dinge" mit Texten, die er während der Zeit einer
Chemotherapie auf einem Diktiergerät gesammelt hatte, 2008 das erste Mal im
Gorki-Theater in Berlin aufgeführt wurde, in einer geschlossenen
Vorstellung vor Freunden, waren dabei auch die Regisseure Jürgen Gosch und
Werner Schroeter, beide auch an Krebs erkrankt und inzwischen gestorben.
Aus ihren dankbaren Reaktionen erfuhr er zuerst, dass er sein Stück eben
nicht nur für sich gemacht hatte, als Eigentherapie, sondern auch für sie,
und für alle, die an erkrankte Freunde und Verwandte dachten.
Das Theater hat mit ihm einen seiner produktivsten Zweifler verloren und
Deutschland womöglich einen seiner unterhaltsamsten Intellektuellen. Er war
sich nie zu fein, zu allem Gefragten Stellung zu beziehen, in jedes
Mikrofon zu sprechen und den Provokateur zu geben, wo immer man den
Provokateur von ihm wollte. Auch wenn er wusste, wie er in einem Gespräch
bekannte, dass er sich damit auch verbrauchte.
Seine Inszenierungen stellten das Schauspiel in Frage, zum Beispiel in
seiner zeitlichen Verlaufsform. Er verlegte Stücke auf den Animatographen,
ein von der Drehbühne abgeschautes Karussell mit vielen Kabinetten, in
denen simultan gespielt, gemalt, gefilmt und projiziert wurde und kein
Besucher je alles sehen konnte. Er veränderte die Position der
Schauspieler, indem er ihnen viele Laien an die Seite stellte, behinderte
Darsteller, die mit ihrem Stolz und ihrer Schüchternheit die Routine von
Identifikation und Repräsentation unterliefen. Diese ästhetischen Aufbrüche
von Formaten reichten vielen, um ihn in eine Clownsecke zu stellen und
dabei zu verkennen, wie ernst es ihm war. Denn wovon er sich nicht trennte,
das war die Funktion der Katharsis: Die Hoffnung, dass man aus dem Apparat
Kunst und aus dem Apparat Theater anders herauskommt, als man
hineingegangen ist.
Das galt für die Zuschauer, aber auch für die vielen Beteiligten an seinen
Projekten. 2005 war Schlingensief nach Namibia gereist, um am Rande von
Lüderitz, einer winzigen Stadt zwischen Wüste und Meer, seinen
Animatographen in einem Township aufzubauen und das traumatische Erlebnis
seiner Parsifal-Inszenierung in Bayreuth zu verarbeiten. Plötzlich als
Retter der an ihrem repräsentativen Bombast schwer schleppenden Hochkultur
engagiert zu sein, war ihm selbst unheimlich. Es gibt vom Namibia-Projekt
200 bis 300 Stunden Filmmaterial, das teils in Ausstellungsinstallationen
wieder auftauchte, mit verloren wirkenden deutschen Schauspielern in der
ehemaligen deutschen Kolonialstadt, einem im Bild herumirrenden
Schlingensief, der sein Drehbuch verliert und Filmdosen im Sand begräbt,
und vielen schwarzen Namibianern, die den Animatographen als willkommene
Abwechslung in einem Leben begreifen, das sonst keine Kultur für sie
bereithält.
Auch ein wunderbares Buch, für das neben Aino Laberenz, Schlingensiefs
späterer Frau, auch Patti Smith fotografiert und Elfriede Jelinek einen
Text geschrieben hat, erzählt diese Geschichte. Die Bilder von Patti Smith,
die ihm wie ein Jünger seinem Propheten folgte, sind klein, schwarzweiß,
verwischt manchmal und von der harten Helligkeit fast ausgelöscht. Nicht
der festgehaltene Moment gilt, sondern das Erlebnis seiner Vergänglichkeit.
Viele der Themen und Aktionen von Christoph Schlingensief waren sehr
deutsch oder sogar auf die deutsche Politik bezogen. Sein Vorgehen war
dabei uneindeutiger als Satire, brachte dafür aber einen Kollektivität
stiftenden Mehrwert für die Beteiligten, wie die Gründung der Partei
"Chance 2000" 1998 für Nichtwähler, Behinderte und andere Minderheiten oder
die Plakataktion "Tötet Helmut Kohl" für die Documenta 1997. Die Regeln des
Spiels auszuhebeln, die auf zu viel Ausschluss basierten, dafür war seine
langjährige Truppe von gehandicapten Darstellern wie geschaffen. Mit ihnen
konnte er die Aufregung über Heuchelei und falschen Konsens, die Demokratie
als oberflächliches Schauspiel und die angsterzeugende Macht der
Institutionen ummünzen in eine karnevaleske Geste, in der sich die
Schwachen die Rituale der Starken aneignen.
Die vielen Interventionen in die inneren Verhältnisse in Deutschland haben
in seiner hiesigen Rezeption vielleicht etwas den Blick darauf verstellt,
dass er, auch da ein Nachfolger des Schamanen Josef Beuys, eine größere
Welt im Blick hatte. 1993 war er das erste Mal nach Simbabwe gereist, um an
seinem legendären "Kettensägen"-Film zu arbeiten, und erzählte darüber
später: "Ich war baff, wie mich das Leben dort ansprang. Eine Kraft, die
ich nicht beschreiben kann. Etwas Spirituelles stellte sich ein. Es war so,
als hätte ich die sicheren Stadtmauern verlassen. Das ganze Getue hier oder
diese kranke Beziehung zur Dritten Welt. Seitdem frage ich mich oft, was
mache ich hier überhaupt."
Reisen nach Nepal und die Teilnahme an buddhistischen Ritualen, die später
in seinen Inszenierungen wieder auftauchten, etwa 2004 im "Parsifal" in
Bayreuth, oder die Inszenierung von Wagners Oper "Der fliegende Holländer"
in Manaus, Brasilien, mit vielen indigenen Darstellern waren Bausteine des
Versuchs, sich der Spiritualität anderer Kulturen mehr zu öffnen und etwas
davon in unsere hineinzuholen. Damit das keine Einbahnstraße wurde, kam er
auf sein Projekt "Remdoogo", das Operndorf, an dem seit Februar 2010 in
Burkina Faso gebaut wird. Mit einer Schule, Klassen für Musik und Film,
Siedlung und Krankenstation soll es vor allem ein Angebot sein, das sich
die Leute von dort nach ihren Bedürfnissen zunutze machen können. In diesem
Festivalsommer hat er mit vielen Veranstaltungen dafür geworben, unter
anderem in Hamburg, Wien, München und Hannover.
Das war Teil einer geradezu beängstigenden Dichte an Aktivitäten und
Plänen, in die der kranke Regisseur einbezogen war. An dem Tag, an dem er
starb, war er ursprünglich bei der Ruhrtriennale angekündigt und seit der
Absage fürchtete man, was nun geschehen ist. Die Berliner Staatsoper wollte
ihre nächste Spielzeit mit ihm eröffnen, noch einmal sollte er einer
etablierten Institution als Ausweis ihrer Aufgeschlossenheit gelten. Auch
für die Gestaltung des Deutschen Pavillons auf der nächsten Biennale in
Venedig war er ausgewählt.
Das sind zwar alles Zeichen der höchsten Anerkennung, die aber mit ihrer
hohen Arbeitsbelastung auch Angst machten um sein Leben, dessen Fragilität
Schlingensief ja selbst so öffentlich gemacht hatte. Es ist nicht gut
gegangen. Doch jetzt darüber zu spekulieren, ob ein Neinsagen ihm geholfen
hätte, steht einem nicht zu.
Denn zu viel auf einmal zu wollen und das Scheitern am eigenen Anspruch zu
verhandeln, war schließlich auch eine Qualität seiner Kunst, sei es auf der
Bühne, in seinen skurrilen Talkshow-Formaten, die stets mit der Geilheit
nach Öffentlichkeit spielten und haderten, oder auch in den Ausstellungen.
In einer Installation, die eine Collage aus Filmbildern von seinem
Lüderitz-Abenteuer zeigte und dabei nicht weniger als die Geschichte des
Kolonialismus, 100 Jahre Film, 200 Jahre Wagner und die Trauer um den Tod
seines Vaters verhandelte, konnte man sich der Polyphonie der Themen auch
entziehen: Es gab nämlich einen Treppenlift, mit dem man durch die
Projektion fahren konnte, um sich so wörtlich ins Bild zu setzen und mitten
in allen Komplexen verloren zu gehen. Wie Verlust geht, das konnte er mit
einer unnachahmlichen Fülle von Bildern und Musik erzählen.
22 Aug 2010
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Kino
Christoph Schlingensief
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