# taz.de -- Das fehlt: Schlingensiefs Chance 2000: Machen Sie mal was! | |
> Mit seiner Partei Chance 2000 hielt Christoph Schlingensief dem | |
> Parteiensystem den Spiegel vor und aktivierte Minderheiten. Wo ist die | |
> Chance 2025? | |
Bild: Heute fehlt er: Regisseur Christoph Schlingensief beim Protest-Baden 1998… | |
„Germany Out Of Control“. In weißen Großbuchstaben leuchtete der Satz von | |
einem der Bildschirme in der Berliner Galerie Crone am Ende jener | |
denkwürdigen Woche Anfang November. Zwei Tage zuvor hatte Bundeskanzler | |
Olaf Scholz Finanzminister Christian Lindner entlassen und das Ende der | |
Ampelkoalition besiegelt. Das Fazit Schlingensiefs hat damit nichts zu tun, | |
auch wenn es treffender kaum formuliert sein könnte. Es gehört zu einem | |
Wahlwerbespot der Partei Chance 2000, die Christoph Schlingensief vor der | |
Bundestagswahl 1998 gegründet hatte. | |
Auch 1998 war bundespolitisch ein bedeutsames Jahr. Gerhard Schröder trat | |
gegen CDU-Amtsinhaber Helmut Kohl als Kanzlerkandidat für die SPD an – und | |
gewann. Die Arbeitslosenzahl betrug 6 Millionen. Auch das bestimmte | |
damals den Wahlkampf. | |
In einem seiner Texte zu Chance 2000 beschreibt Schlingensief die | |
Ausgangssituation so: „Nichts ist mehr möglich. Eine Republik in der | |
Windschutzscheibensituation. Wir haben in unseren Wagen Platz genommen und | |
rasen und rasen, nur um die Realität nicht mehr sehen zu müssen. Doch je | |
mehr Gas wir geben, desto schneller stürzt das Ziel von uns weg.“ Der Name, | |
den er seiner Partei gab, ist wörtlich zu verstehen. Sie sollte eine Chance | |
für alle sein, vor allem für die Unsichtbaren, die Arbeitslosen und sonst | |
wie Ausgegrenzten. | |
## Eine Pleite, die von Herzen kommt | |
Die Berliner Einzelausstellung mit Arbeiten von Schlingensief läuft nun | |
leider nicht mehr, am 9. November ging sie zu Ende. Um sich noch einmal | |
Chance 2000 zu vergegenwärtigen – und dafür ist in diesen Tagen der | |
richtige Zeitpunkt – braucht man sie aber auch nicht. Wahlwerbespots der | |
Partei kann man sich auf [1][www.schlingensief.com] anschauen. | |
Schlingensiefs schmale Publikation „Chance 2000. Wähle dich selbst“, gab | |
KiWi 1998 heraus, eine Art Handbuch zur Gründung der Initiative, in der so | |
herrliche Ratschläge stehen wie: „Machen Sie mal was! Was ist egal. | |
Hauptsache, Sie können es vor sich selbst vertreten. Natürlich wird es eine | |
Pleite werden, wenn Sie selbst was machen. Aber eine Pleite, die von Herzen | |
kommt, ist besser als eine Million, an der Scheiße hängt.“ | |
[2][Ein Dokumentarfilm namens „Chance 2000 – Abschied von Deutschland“ | |
erschien 2017], 100 Stunden Videomaterial aus dem Nachlass Schlingensiefs | |
wurden zu einer Kompilation zusammengefasst, die es auf DVD und Blueray zu | |
erwerben gibt. | |
„Unbürokratisch zur Direktkandidatur“ lautete die Devise von Chance 2000. | |
Nichts versprechen und alle ansprechen. Selbstorganisiert und ideologielos | |
gab sich die Partei, setzte der politischen eine künstlerische Inszenierung | |
entgegen. Jeder konnte und sollte aktiv werden. Im Sinne des Souveräns: | |
„Die kleinste Einheit von Volk ist 1V = 1 Volk, also jeder von uns.“ | |
## Die etablierten Parteien seien nur noch Spaßparteien | |
Ein Wahlkampfzirkus auf dem Prater-Gelände an der Kastanienallee in | |
Berlin-Prenzlauer Berg wurde veranstaltet, Einkaufstouren ins KaDeWe | |
organisiert. Höhepunkt war die Aktion „Baden im Wolfgangsee“. 6 Millionen | |
Arbeitslose sollten vor Kohls Urlaubsdomizil in St. Gilgen in den See | |
steigen, so den Wasserspiegel anheben und das Ferienhaus des Nochkanzlers | |
fluten. Geklappt hat das freilich nicht. Nur ein paar Hansel reisten | |
tatsächlich an. | |
Dennoch war Chance 2000 absolut ernst gemeint. Schlingensief und seine | |
Mitstreiter*innen hielten dem Parteiensystem der Bundesrepublik einen | |
Spiegel vor, enttarnten Worthülsen und politische Mechanismen. Nicht | |
zuletzt nahm Schlingensief – vor allem was Fragen der Inklusion angeht – | |
vieles vorweg, was in der Breite erst Jahrzehnte später diskutiert wurde. | |
Indem er versuchte, Minderheiten Gehör zu verschaffen, Arbeitslose und | |
Menschen mit Behinderung aufforderte, sich selbstbewusst zu zeigen. | |
Schlingensiefs Antwort auf die Frage, wie er darauf gekommen sei, eine | |
Partei zu gründen, klingt heute noch einleuchtender als damals: Die | |
etablierten Parteien seien für ihn nur noch Spaßparteien. Sie seien zynisch | |
und nähmen nichts mehr ernst. Stattdessen wollte er „dem kalten Kampf | |
menschliche Wärme entgegensetzen“ und „mit Fantasie Bewegung ins | |
politische Spiel zu bringen“. Gebrauchen könnten wir all das auch heute. | |
Nur einer wie Christoph Schlingensief, der fehlt uns seit nunmehr 14 | |
Jahren. Keine Chance 2025. | |
18 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.schlingensief.com/ | |
[2] /Archiv-Suche/!5453798 | |
## AUTOREN | |
Beate Scheder | |
## TAGS | |
Christoph Schlingensief | |
Gerhard Schröder | |
Helmut Kohl | |
Social-Auswahl | |
Kino | |
Burkina Faso | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Anarchischer Film aus Hamburg: Eine anarchistische Nummernshow | |
Pachet Fulmens Langfilm „Durch die Nacht mit Wanda Wandalis“ ist ein wildes | |
Vergnügen. Auch wenn ihr Dietrich Kuhlbrodt darin fast die Schau stiehlt. | |
Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso: Die Vision und ihre Wandlung | |
Vor zwölf Jahren gründete Christoph Schlingensief ein Operndorf in Burkina | |
Faso. Was daraus wurde, untersucht Sarah Hegenbart in einer Studie. | |
Schlingensief-Schau: Am Rande der Hysterie | |
Ab Sonntag zeigen die Kunst-Werke eine große | |
Christoph-Schlingensief-Retrospektive. Unser Autor erinnert sich an den | |
Ausnahmekünstler. | |
Zum Tod von Christoph Schlingensief: Die berührende Kraft der Kunst | |
Produktiver Zweifler und unterhaltsamer Intellektueller: Christoph | |
Schlingensief hat den Provokateur gegeben, wo immer man den Provokateur von | |
ihm wollte. |