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# taz.de -- Geschlechtsangleichende Medizin: Der Hürdenlauf
> Wann zahlen die Krankenkassen für angleichende Behandlungen bei trans*
> Personen? Eine neue Anleitung sorgt für Kritik in der Community.
Bild: Geschlecht ist Selbstdefinition, sagen trans* Menschen. Die Kassen wollen…
Viele, wenn auch nicht alle trans* Menschen wünschen im Lauf ihres Lebens
medizinische Eingriffe, [1][um ihr körperliches Erscheinungsbild ihrem
Geschlecht anzupassen]. Immer mehr setzt sich in der Medizin auch die Sicht
durch, dass solche Maßnahmen der Gesundheit der Betroffenen zuträglich
sind. So findet eine Studie des Robert-Koch-Instituts vom März, dass
„Barrieren auf dem Weg zur Geschlechtsangleichung“ zu „Stress und einer
schlechteren psychischen Gesundheit führen“ könnten.
Weil nämlich „die gesellschaftliche und medizinische Orientierung an einer
zweigeschlechtlichen Norm die gesundheitliche Situation von
transgeschlechtlichen Menschen“ präge, [2][heißt es dort]. Die Konsequenz
daraus wäre, was auch viele trans* Aktivist:innen fordern: Barrieren
abbauen auf dem Weg zur medizinischen Behandlung. Nur: Der Medizinische
Dienst der Krankenkassen (MDS) sieht das anders.
Der MDS hat im November eine neue [3][Begutachtungsanleitung (BGA) für
Genehmigungsverfahren für trans* Menschen] beschlossen. Und spricht sich
darin ausdrücklich für das Errichten solcher Barrieren aus. Die neue
Anleitung mit dem Titel „Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei
Transsexualismus“ ersetzt damit das Vorgängerdokument von 2009. Die BGA
regelt, welche Voraussetzungen trans* Personen erfüllen müssen, um von
ihrer Krankenkasse geschlechtsangleichende Maßnahmen finanziert zu bekommen
– zum Beispiel Operationen.
In der trans* Community gibt es über die neue BGA viel Kritik und auch
Empörung. Kritisiert werden zum Beispiel verpflichtende Psychotherapien,
der Ausschluss von nichtbinären Personen und ein pathologisierendes
Geschlechterverständnis. Pathologisierend bezieht sich auf die Frage,
welcher Körper als „intakt“ gesehen wird und welcher „Behandlungsbedarf�…
hat. Für die medizinische Versorgung von trans* Menschen ist dies
entscheidend. Wer leidet? Eine Person, deren Körper gemäß
Geschlechtsidentität modifiziert wird? Oder die Person, der dies verwehrt
bleibt?
## Therapien und „Alltagserfahrungen“
Der MDS geht in der Anleitung von einem rechtlichen Konstrukt aus, das er
den „krankenversicherungsrechtlich betrachtet gesunden Körper“ nennt. Vor
„Eingriffen“ an diesem, steht da weiter, müssten Hürden errichtet werden,
um sicherzustellen, dass angemessene Maßnahmen zur „Beseitigung des
krankheitswertigen Leidensdruckes“ ergriffen würden. Angemessen heißt hier
vor allem, dass nicht „zu viele“ Maßnahmen „zu schnell“ erfolgen solle…
Dies soll durch vorgeschriebene Psychotherapien und sogenannte
Alltagserfahrungen erreicht werden. Letzteres heißt: Die Person soll
bereits eine Zeit lang nach außen erkennbar in der gewünschten
Geschlechtsidentität leben, bevor Behandlungen bezahlt werden.
Regelhafte Leistungen der Krankenkassen kommen außerdem nur für Personen
infrage, denen „Transsexualismus“ diagnostiziert worden ist. Das ist ein
eigentlich veralteter Begriff, der noch in der Diagnoseklassifikation ICD
10 steht. Diese gilt aber nicht mehr lange. Die Mitgliedstaaten der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben eine neue beschlossen, die ICD 11.
Sie tritt Anfang 2022 weltweit in Kraft und verändert viel Grundsätzliches
zum Thema Transgeschlechtlichkeit. Sie wird darin nicht mehr als psychische
Störung, sondern als „Geschlechtsinkongruenz“ definiert. Wann das ins
deutsche Medizinrecht übernommen wird, darüber sei noch keine Aussage
möglich, sagt der MDS.
Kalle Hümpfner vom Bundesverband Trans* (BVT*) beklagt, dass die neue
Begutachtungsanleitung „ohne Einbeziehung von
Selbstvertretungsorganisationen“ erstellt worden sei. Nur so sei es zu
erklären, dass an pathologisierenden Zuschreibungen festgehalten werde,
sagt Hümpfner der taz. „Es gibt keine Möglichkeit, die Geschlechtsidentität
einer Person von außen zu ermitteln.“ Auch jede therapeutische Diagnose
beruhe auf der Selbstauskunft der jeweiligen Person. Lange Wartezeiten
würden den betroffenen Personen nicht helfen, sondern nur deren Belastung
erhöhen.
Auch sagt Hümpfner, dass die neue Begutachtungsanleitung die Leitlinien aus
anderen medizinischen Bereichen, die bereits existierten, nicht
berücksichtige. Die „Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen
medizinischen Fachgesellschaften“ (AWMF) hat im Oktober 2018 schon eine
[4][Leitlinie zu „Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und
Trans-Gesundheit“ herausgebracht]. Diese Leitlinie ist für die ärztliche
Behandlung entscheidend, während die Anleitung des Medizinischen Dienstes
für die Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen ausschlaggebend ist.
## Weiterhin zu binär gedacht
Zudem definieren immer mehr trans* Personen ihre Geschlechtsidentitäten als
jenseits der zweigeschlechtlichen Norm. Sie benutzen Selbstbezeichnungen
wie nichtbinär, agender oder genderqueer. Zwar erwähnt die neue BGA
nichtbinäre Personen erstmals, sie schließt sie allerdings auch von der
regelhaften Versorgung aus – denn auf sie treffe die ICD-Diagnose
„Transsexualismus“ nicht zu. Allerdings teilt der MDS auf taz-Nachfrage
mit: Versicherte könnten „bei ihrer Krankenkasse die Kostenübernahme für
eine Leistung beantragen“. Die Kasse wiederum könne „den Medizinischen
Dienst mit einer sozialmedizinischen Stellungnahme beauftragen“.
Auch hier hätte es Spielraum gegeben – auf Grundlage bereits existierender
medizinischer Leitlinien, die nichtbinäre Menschen schon jetzt ausdrücklich
einschließen, sagt Jenny Wilken von der Deutschen Gesellschaft für
Transidentität und Intersexualität (dgti) der taz. Sie befürchtet, dass
individuelle Anträge meist abgelehnt und nichtbinäre Personen so förmlich
gezwungen würden, sich als binär männlich oder weiblich zu präsentieren.
Wilken bemängelt weiter, dass für genitale geschlechtsangleichende
Operationen sogenannte Alltagserfahrungen vorausgesetzt werden: Die trans*
Person muss laut BGA einen „Zeitraum von mindestens 12 Monaten“ erkennbar
im Wunschgeschlecht verbringen und zwar „täglich und in allen
Lebensbereichen“. Der MDS betrachtet das als hilfreich für die Betroffenen
und hält es für nötig, „um eine voll informierte soziale und medizinische
Transition zu ermöglichen und das Risiko für Bedauern (regrets) und
Retransitionen zu minimieren“. Jenny Wilken findet dagegen, dass damit die
Wartezeit auf genitale Operationen zu lang werde. Die Anleitung bestärke
mit dieser Betonung einer notwendigen Vermeidung von Fehlentscheidungen
transfeindliche Debatten. Diskriminierung und pathologisierende
Einstellungen würden verstärkt anstatt abgebaut.
Das genannte „Bedauern“ und die „Retransitionen“ – also die Rücknahme
bestimmter oder aller Transitionsschritte – spielen im gesellschaftlichen
Diskurs über trans* Identitäten eine große Rolle. Die Unterstellung ist
dabei oft, dass die Identität von trans* Personen eine Fehleinschätzung
sei. Eine große US-amerikanische Studie mit mehr als 27.000 trans*
Teilnehmer:innen hingegen zeigte 2015: Wenn Menschen retransitionieren,
dann in weniger als 0,5 Prozent der Fälle, weil sie sich doch mit ihrem bei
der Geburt zugeordneten Geschlecht wohler fühlen. Stattdessen wurden als
Gründe vor allem Druck von Familienmitgliedern, Diskriminierung und
Probleme auf dem Arbeitsmarkt genannt.
## Leitlinie zu Psychotherapien wurde ignoriert
Immerhin hat die neue BGA die Zeiten für die psychotherapeutische
Behandlung wie auch für die „Alltagserfahrungen“ von 18 auf 12 Monate
verringert. Dies wird jedoch nicht als grundsätzliche Verbesserung
gewertet. Sabine Maur, Therapeutin und im Vorstand der
Psychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz, kritisiert, dass die
AWMF-Leitlinie in der neuen BGA „leider vollkommen selektiv“ zitiert würde.
So weist die AWMF-Leitlinie etwa darauf hin, dass Psychotherapie
„keinesfalls als Voraussetzung für körpermodifizierende Behandlungen“
gesetzt werden dürfe. Dies würde in der neuen BGA der Kassen einfach nicht
beachtet. Die BGA zementiere „die bestehende strukturelle Diskriminierung
von trans* Menschen im Gesundheitswesen“.
Die queerpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Doris
Achelwilm, kritisiert der taz gegenüber, dass „die neue Anleitung von
einem Anspruch auf ‚Wirtschaftlichkeit‘ der Gesundheitsleistungen geprägt�…
sei. Dabei sollte es im Gesundheitssystem um das „Solidarprinzip und die
bedarfsgerechte Versorgung von Patient:innen gehen“. Die „Bedarfe queerer
Menschen“ müssten „endlich anerkannt“ und die Behandlungskosten „im Ra…
der Regelversorgung“ übernommen werden statt über Gutachten und
Einzelfallprüfung. Selbstorganisationen der trans* Community fordern dies
schon lange.
11 Dec 2020
## LINKS
[1] /Hormonbehandlung-fuer-trans-Jugendliche/!5696002
[2] https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichtersta…
[3] https://www.mds-ev.de/fileadmin/dokumente/Publikationen/GKV/Begutachtungsgr…
[4] https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/138-001.html
## AUTOREN
Kirsten Achtelik
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