# taz.de -- Stadt hält Beileidsschreiben zurück: Verheimlichte Solidarität | |
> Hunderte Beileidsbekundungen gingen nach dem rechten Brandanschlag 1992 | |
> in Mölln ein. Aber sie erreichten die Betroffenen nicht. | |
Bild: Mölln 1992: Bei dem Brandanschlag rettete seine Großmutter Ibrahim Arsl… | |
HAMBURG taz | Rund 300 Solidaritätsschreiben haben die Stadt Mölln im Jahr | |
1992 erreicht. Es waren 300 Briefe von Menschen, die den Opfern des | |
rassistischen Brandanschlages in der Nacht zum 23. November ihr Bedauern | |
und ihr Entsetzen ausdrücken wollten. Über 300 Briefe, die die Familie | |
Arslan vor über 27 Jahren nicht erreichten. „Keinen einzigen Brief hat die | |
Stadt damals an meine Familie weitergeleitet“, sagt Ibrahim Arslan, der als | |
Kind den Anschlag in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt überlebte. | |
„Der überwiegende Teil der Briefe ist seinerzeit in der Teestube in der | |
Möllner Seestraße eingegangen und von dort später an die Stadt | |
weitergeleitet worden“, bestätigt Jan Wiegels, Bürgermeister von Mölln seit | |
2010, der taz. Wiegels erklärt, die Briefe seien zunächst in das Ordnungs- | |
und Sozialamt gelangt und später in das Stadtarchiv überführt worden. Aus | |
den zahlreichen Beileids- und Solidaritätsbekundungen stellte die | |
Verwaltung 1993 eine Zusammenstellung fertig, die auch der Presse | |
zugänglich war. | |
Nach der Schätzung eines Archivars des Stadtarchivs seien noch weitere, an | |
die 500 Briefe, zu einem späteren Zeitpunkt in der Teestube eingegangen, | |
sagt Wiegels. Die Briefe seien die ganze Zeit öffentlich einsehbar gewesen. | |
„Eine Anfrage seitens der Betroffenen, die Unterlagen einzusehen, hat es | |
nicht gegeben“, sagt Wiegels. Er versichert jedoch: „Soweit seitens der | |
Absender ein entsprechender Wunsch geäußert wurde, sind die | |
Beileidsbekundungen an die Betroffenen weitergeleitet worden.“ | |
Von den Schreiben der vielen Einzelpersonen, Initiativen und | |
Staatsrepräsentanten habe die Familie Arslan aber erst im vergangenen Jahr | |
durch einen Zufall erfahren, sagt Ibrahim Arslan. Eine Studentin war im | |
Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit durch einen Archivar auf die Ordner | |
aufmerksam gemacht worden. Zufällig kannte sie Ibrahim Arslan. Dieser | |
wandte sich an die Stadt und fragte nach den Briefen. | |
Die Originalschreiben an die Familien, aber auch Kopien der allgemeinen | |
Kondolenzschreiben seien den Familien daraufhin „umgehend“ übergeben | |
worden, so der Bürgermeister. Der Betroffene hat die Übergabe allerdings | |
etwas anders in Erinnerung. „Bei der Stadt musste ich ziemlichen Druck | |
aufbauen und betonen, dass die Briefe, die an uns adressiert sind, uns auch | |
gehören“, sagt Arslan. Vor einiger Zeit konnte er dann die Schreiben | |
abholen. Nach und nach liest er sie. Erneut holt ihn die Geschichte in der | |
Gegenwart ein. Beim Gespräch kling auch der chronische Husten, eine | |
traumatische Belastungsstörung, durch. | |
Vor 28 Jahren überlebte Ibrahim Arslan nur, weil seine Großmutter, Bahide | |
Arslan, den damals Siebenjährigen, als das Haus brannte, in die Küche | |
brachte, neben den Kühlschrank setze und in nasse Tücher wickelte. Das | |
weibliche Familienoberhaupt, 51 Jahre, verbrannte im Flur. Ibrahims | |
Schwester Yeliz Arslan, zehn Jahre alt, und seine Cousine Ayşe Yılmaz, | |
vierzehn Jahre alt, starben ebenso. Yeliz konnte zunächst lebend geborgen | |
werden, rief nach ihrer Mutter und starb wenige Minuten später an | |
Rauchvergiftung und Brandwunden. Dreieinhalb Stunden nach dem Brand fand | |
die Feuerwehr Ibrahim Arslan völlig verrußt und gänzlich vom Löschwasser | |
unterkühlt. | |
Um ein Uhr morgens hatten die Rechtsextremen Michael Peters und Lars | |
Christiansen gleich mehrere Molotowcocktails in das Haus geworfen, in dem | |
zehn Menschen türkischer Herkunft lebten. Als sie sahen, dass der Eingang | |
des Gebäudes im alten Stadtzentrum Feuer gefangen hatte, riefen sie um 1.08 | |
Uhr die Feuerwehr an: „In der Mühlenstraße brennt es! Heil Hitler!“, sagt… | |
sie. Bereits eine halbe Stunde zuvor hatten die jungen Männer schon einmal | |
bei der Feuerwehr angerufen: „In der Ratzeburger Straße brennt es, Heil | |
Hitler!“ In der Ratzeburger Straße Nummer 13 konnten sich alle Bewohner | |
retten. | |
„Für mich ist nicht nachvollziehbar, warum meine Familie die Schreiben | |
nicht sofort erhalten hat“, sagt Ibrahim Arslan. Mit Lichterketten und | |
Demonstrationen sei ihnen damals deutschlandweit Solidarität ausgedrückt | |
worden. „Doch in diesen persönlichen Briefen spürt man eine tiefe | |
Solidarität“, sagt er. Und weiter: „Es hätte uns damals geholfen zu lesen, | |
dass wir nicht alleine sind.“ Über die Inhalte der Schreiben möchte er noch | |
nicht öffentlich reden. | |
Zu einem Brief der „Lagergemeinschaft Ravensbrück“ will er aber doch etwas | |
sagen. Die Lagergemeinschaft wurde von Überlebenden von | |
Konzentrationslagern gegründet. „Die Chance, politische Beziehungen | |
aufzubauen, wurde durch das Zurückhalten der Briefe unterbunden“, sagt | |
Arslan. Seit Jahren schon ist er mit anderen Opfern rechter Gewalt im | |
Austausch. | |
Er sagt: „Wir denken, dass die Opfer des historischen Nationalsozialismus | |
enger mit den Opfern des aktuellen Rechtsextremismus zusammenarbeiten | |
sollten.“ Auch um gemeinsam politischen Druck zu entwickeln. Das Wort | |
„Opfer“ benutzt er, weil er und andere Betroffene es „mittlerweile mit | |
Stärke und Sympathie füllen“. | |
4 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Andreas Speit | |
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