# taz.de -- Pionierin des Radsports in Italien: Verachtung und Verehrung | |
> Die italienische Radsportlerin Alfonsina Strada bewältigte 1924 den Giro | |
> d'Italia trotz Startverbots – allein unter Männern. | |
Bild: Selten in Fotoarchiven: Pionierinnen des Radsports, hier die Schottin Eve… | |
Die ZuschauerInnen am Straßenrand waren offenbar etwas schizophren in ihrer | |
Haltung gegenüber dieser Frau. Mal, so wird es berichtet, verhöhnten sie | |
diese wegen ihrer kurzen Haare und ihrer Muskeln, beschimpften sie als | |
Wahnsinnige und Prostituierte. Mal waren sie so beeindruckt von der | |
einzigen Frau, die damals am Giro d’Italia teilnahm und einfach nicht | |
aufgeben wollte, dass sie die Radfahrerin, wenn sie erschöpft war, auf | |
Händen weitertrugen. | |
Trotz Regen und Schlamm, obwohl sie oft stürzte und die Zeit überschritt, | |
gelangte Alfonsina Strada am Ende über die Ziellinie, nach 3.600 Kilometern | |
und als eine von nur 30 der insgesamt 90 Teilnehmenden. Unter 89 Männern. | |
Sie war zu diesem Zeitpunkt 33 Jahre alt. | |
Dass die Italienerin Alfonsina Strada 1924 den Giro bewältigte, war | |
beileibe kein Zufall. Sie war damals eine überaus erfolgreiche | |
Radsportlerin, die 36 Rennen gegen Männer gewonnen hatte. Eine | |
Ausnahmeathletin und ein Star, epochentypisch einigermaßen sexistisch | |
gefeiert als „der Teufel im Rock“. Doch mit der wachsenden Macht der | |
Faschisten wurde es 1924 schwerer für Frauen wie Strada. | |
Beim Giro hätte sie ohnehin nicht teilnehmen dürfen, [1][sie schmuggelte | |
sich als Mann ein]. Man ließ die Sportlerin dann wohl aus kommerziellen | |
Gründen doch starten. Für die Vermarktung des Rennens war die Mischung aus | |
Verachtung und Verehrung gegenüber Alfonsina Strada überaus hilfreich. So | |
sehr, dass man sie regelwidrig trotz zwischenzeitlicher Zeitüberschreitung | |
weiterfahren ließ. | |
Schlechte Startbedingungen | |
Die Geschichte von Alfonsina Strada ist wenig gewöhnlich auch für | |
Sportlerinnen ihrer Zeit. Denn sie stammte aus armen, dörflichen | |
Verhältnissen. Mit acht oder zehn Geschwistern aufgewachsen (die genaue | |
Zahl ist unklar), und Eltern, die Analphabeten waren, hatte sie weitaus | |
schlechtere Startbedingungen als die zumeist adeligen oder großbürgerlichen | |
Frauen, die sich sonst aufs Rad schwangen. | |
Dass sie überhaupt in den Besitz eines Fahrrads kam, hatte die zehnjährige | |
Alfonsina einem Zufall zu verdanken. Ihr Vater, ein ungelernter | |
Hilfsarbeiter, brachte statt des üblichen Mehls oder Eiern diesmal ein | |
Fahrrad nach Hause, das er für seine Arbeit erhalten hatte. Das Rad | |
sicherte sich die Tochter. Es war für sie zunächst eine Fluchtmöglichkeit | |
aus der Armut, eine Chance, sich frei zu bewegen. Dann begann sie, in | |
Rennen zu siegen, gegen Mädchen und gegen Jungs. | |
Ihre erste Prämie, ein lebendes Schwein, soll zum familiären Eklat geführt | |
haben, weil die Eltern sie beschuldigten, das Tier gestohlen zu haben. Sie | |
drohten mit Zwangsheirat, sollte die Tochter die unweibliche Radlerei nicht | |
aufgeben. Die flüchtete daraufhin in eine Ehe mit dem Mechaniker Luigi | |
Strada. Und der neue Ehemann tat etwas, was auch eher unüblich war für | |
seine Zeit: Er schenkte der Frau ein neues Fahrrad und förderte ihr Talent. | |
Radsport war eines der Metiers, in dem Frauen eher früh Erfolg haben | |
konnten, auch durch die frühe Verbreitung des Rads. Schon im 19. | |
Jahrhundert gab es weibliche Stars und Profis, aber auch ständige Verbote. | |
Alfonsina Strada selbst soll viele Rekorde aufgestellt und zu Beginn ihrer | |
Laufbahn in Sankt Petersburg sogar den Zaren getroffen haben. Allerdings | |
sind Teile ihrer Biografie umstritten, und ihr zweiter Ehemann, der mal ein | |
Buch über ihr Leben schreiben wollte, hatte angeblich lebhaften Sinn für | |
Ausschmückung. | |
Unumstritten sind ihre außergewöhnlichen Leistungen auf dem Rad. Obwohl sie | |
nie mehr am Giro teilnehmen durfte, fuhr die Italienerin weiter erfolgreich | |
Rennen und betrieb später ein Fahrradgeschäft. Ihre Geschichte fand später | |
Eingang in Theaterstücke, Songs und jüngst in ein auch auf Deutsch | |
erschienenes Kinderbuch. Einen Giro für Frauen aber gibt es erst seit 1988; | |
[2][im Jahr 2020 wurde er nicht einmal im Fernsehen übertragen.] All das | |
musste Alfonsina Strada nicht mehr erleben: Sie starb 1959 in Mailand, bei | |
einem unglücklichen Sturz mit ihrer neuen Liebe, dem Motorrad. Mit 68 | |
Jahren. Auf Konventionen gab sie auch da nicht viel. | |
26 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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