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# taz.de -- Thanksgiving in den USA: Das Virus reist mit
> Larry Levner wird am Donnerstag seinen Enkel nicht in die Arme schließen.
> Die Pandemie ist der Feind des wichtigsten Feiertags in den USA.
New York taz | Unter normalen Umständen wäre der Washingtoner
Familientherapeut Larry Levner am Donnerstagabend in Kalifornien und würde
Dane-Martin in den Arm nehmen. Es ist sein jüngster Enkel, der im Oktober
zur Welt gekommen ist und den er bislang nur von Computerbildschirmen
kennt.
An der Ostküste des Landes würde sich um dieselbe Zeit die ehemalige
Rechtsanwaltsgehilfin Millie Rivera-Velez mit acht bis zwölf Angehörigen an
den gedeckten Tisch setzen. Unter ihnen wäre auch ihr Bruder, der dieses
Jahr nicht verreisen kann, weil er arbeitslos geworden ist und ihm das Geld
fehlt, um sein Auto zu reparieren.
In der Kleinstadt Middletown im Hudson Valley würde die pensionierte
Postbotin Anita Geary um dieselbe Zeit nach zwei Tagen harter Arbeit ihre
Küche verlassen. Sie würde als Erstes Zwiebelsuppe servieren, später
gestopften Truthahn, Schinken, Fleischbällchen, verschiedene Sorten Gemüse,
Süßkartoffeln, Esskastanien, mehrere Saucen, gefolgt von Kürbis- und
anderen Kuchen. Einer ihrer 25 Gäste wäre der jüngste Sohn mit Familie, der
jetzt in Deutschland festhängt.
Und in New York City würde sich der Filmkritiker und Universitätsdozent
Brandon Judell auf den Weg zu seinen Geschwistern und Neffen auf dem Land
machen. Aber nachdem er mit ihnen in den zurückliegenden Monaten immer
wieder per SMS über Donald Trump aneinandergeraten ist, hat er dieses Mal
keine Einladung bekommen.
[1][Thanksgiving] ist der Moment im Lauf des Jahres, in dem US-Amerikaner
eine kollektive Pause einlegen. Sie reisen kreuz und quer durch das Land.
Sie kommen mit ihren Lieben zusammen. Sie danken den Menschen in ihrem
Leben. Und sie essen mehr als an jedem anderen Tag. Thanksgiving ist der
beliebteste aller Feiertage. Und er ist frei von den Dingen, die trennen,
die Geld kosten und die Streit auslösen. Es ist ein nationaler Feiertag.
Aber es geht nicht um Religion. Es gibt keine Geschenke. Und niemand
schwenkt Fähnchen.
Doch im Jahr 2020 ist Thanksgiving nicht wie sonst. Statt der Vorfreude hat
dieses Mal die Furcht die Stimmung vor dem vierten Donnerstag im November
bestimmt. Die lange angekündigte zweite Welle der Pandemie hat weite Teile
des Landes erfasst.
Schon vor dem Fest übertrifft die Zahl der Betroffenen in den USA die in
sämtlichen anderen Staaten der Welt: Die Statistik zählt bisher mehr als
eine Viertelmillion Covid-19-Tote und über 12 Millionen Corona-Infizierte.
Täglich kommen etwa 170.000 neue Fälle hinzu. Allein am Dienstag meldeten
die Behörden 2.146 Todesopfer. Vielerorts sind die Krankenhäuser zu über 90
Prozent belegt. Falls Thanksgiving zu dem befürchteten
Superspreader-Ereignis wird, werden schon in ein oder zwei Wochen Betten
und Personal fehlen.
„Die nächsten Monate werden brutal“, mahnt der Gouverneur von New Jersey
seine Mitbürger. Wie viele andere Politiker der Demokratischen Partei fleht
er die Bevölkerung an, „vernünftig“ zu sein, zu Hause zu bleiben,
allenfalls im ganz kleinen Kreis zu feiern und auf gar keinen Fall Oma und
Opa einzuladen. Der 79-jährige Immunologe [2][Anthony Fauci], der schon
alle US-Präsidenten seit Ronald Reagan beraten hat, sagt in einem
Interview, dass er stolz darauf sei, dass seine erwachsenen Töchter zu
Thanksgiving nicht zu ihm und seiner Frau kommen: „Sie wollen uns vor einer
Ansteckung schützen.“
## Folgen von Isolation und Einsamkeit
Larry Levner in Washington, D.C., hat seine Therapiesitzungen bereits im
März komplett ins Internet verlegt. Fast all seine Patienten sind ihm in
die virtuelle Sphäre gefolgt. Seither hat er unterschiedliche Reaktionen
bei ihnen beobachtet. Manche wollen sich angesichts der erzwungenen
Isolation und Einsamkeit am liebsten unter dem Bett verkriechen, andere
erstarken in der Notlage oder empfinden es als tröstlich, dass sie nicht
die Einzigen sind, denen es schlechtgeht. Wieder andere fühlen sich
schuldig, wenn sie die Bilder von den Warteschlagen vor Suppenküchen sehen,
während sie selbst weder ihre Arbeit noch ihr Einkommen verloren haben.
„Wir sind alle verschieden“, sagt der Therapeut, „und wir gehen
unterschiedlich mit Stress und Trauma um.“ Er ist 70 und gehört
gesundheitlich zu einer Hochrisikogruppe. Er hofft, dass die „Kombination
von Impfstoff und neuem Präsidenten“ für einen anderen Umgang mit der
Pandemie sorgen wird und dass es im nächsten Jahr wieder möglich sein wird,
Thanksgiving persönlich zu feiern. Aber sicher ist er sich nicht. Seine
letzten Berufsjahre hatte er sich anders vorgestellt. Die Ungeduld ist
spürbar, wenn er sagt: „Im Alter hat man weniger Zeit, um sein Leben
zurückzubekommen.“
Rituale, das weiß der Therapeut, sind wichtig für Menschen. Dabei zählt für
ihn weniger, ob es „Pessach, Weihnachten oder eine Beerdigung“ ist, als die
Gelegenheit, mit denen zusammenzukommen, die man liebt. Zu den vielen
wichtigen Ritualen, die in seinem Land in Gefahr geraten sind, gehören auch
politische Umgangsformen und Wahlen. Levner nennt es schmerzhaft, wie tief
Donald Trump das Land gespalten hat und wie sehr er versucht, die Wahlen –
„ein Ritual unserer Demokratie“ – auszuhöhlen. Dass dennoch 72 Millionen
Menschen für ihn gestimmt haben, ordnet Levner so ein: „Wir sind ein Land
geworden, dem es an Einfühlungsvermögen fehlt.“
Für den Thanksgivingabend sind in der US-Hauptstadt Temperaturen zwischen 8
und 10 Grad Celsius angekündigt. Aber Levner wird in seinem Garten sein.
Dort stehen zwei Heizstrahler, die er angeschafft hat, um Gäste haben zu
können, ohne sich im geschlossenen Raum aufhalten zu müssen. Er wird sie
auf die beiden Tische richten. An einem wird er mit seiner Frau Linda
sitzen. Am zweiten, mit Abstand aufgestellten Tisch, wird die Familie eines
Sohnes, der nicht weit entfernt wohnt, Platz nehmen. Die Familie in
Kalifornien mit dem neu geborenen Enkel wird sich per Computer zuschalten.
## Hilfe für die Bedürftigen in Orange County
In der großen Familie der Rentnerin Millie Rivera-Velez sagt an
Thanksgiving jeder Anwesende, wofür sie oder er dankbar ist. Dabei kommen
so unterschiedliche Dinge wie die eigene Gesundheit, der Erfolg eines
Kindes oder neu angeschaffte Möbelstücke zur Sprache. Aber in diesem Jahr
wird es keine große Runde um ihren Tisch geben, der sich unter dem Gewicht
von Truthahn, eingelegter Schweineschulter und traditionellen Gerichten aus
Puerto Rico biegt, woher die Familie stammt. Rivera-Velez wird den Abend
allein mit Ehemann und Tochter verbringen. Sie ist „ein wenig traurig“
darüber.
Seit Langem betreut die 55-Jährige die „St. Paul’s Mission and Interfaith
Pantry“. Die Gruppe ist eine Initiative von Kirchen, Synagogen und
Moscheen. Sie verteilen Lebensmittel an Bedürftige. Diese haben häufig
gesundheitliche Probleme und leiden unter „Ernährungsunsicherheit“ – ein
euphemistisches Wort für Armut. Rivera-Velez weiß, was das bedeutet. Als
kleines Mädchen stand sie mit ihrer Mutter selbst in der Warteschlange vor
der Lebensmittelausgabe. Andere Kinder hänselten sie deswegen.
An Thanksgiving fällt jedes Jahr besonders viel Arbeit an. Rivera-Velez und
mehrere Freiwillige verteilen auch Truthahnfleisch. Wegen des verlängerten
Wochenendes, das auf den Feiertag folgt, müssen die Pakete besonders groß
sein. Um die Ansteckungsgefahr zu verringern, hat Rivera-Velez einen Teil
der Lebensmittelausgabe auf persönliche Lieferungen umgestellt. Freiwillige
stellen die Gaben vor Haustüren ab, rufen die Begünstigten an und ziehen
sich zurück, bevor diese ihre Lieferung abholen.
Orange County liegt eine Autostunde westlich von New York City. Von den
Hügeln des Countys aus ist die Skyline von Manhattan sichtbar, wo mehr
Millionäre und Milliardäre leben als auf irgendeinem anderen Fleck des
Planeten. In [3][Orange County] kommt es vor, dass Sozialarbeiter bei
Hausbesuchen leere Küchenschränke vorfinden. In solchen Fällen rufen sie
Rivera-Velez an. Gewöhnlich hat sie genügend Vorräte in dem Lagerraum einer
Kirche.
In diesem Jahr ist auch das anders. Statt der üblichen 250 Haushalte muss
sie jetzt mehr als 400 versorgen, von denen viele seit dem Beginn der
Pandemie gewachsen sind. Wo zuvor vier Personen unter einem Dach lebten,
sind jetzt oft doppelt so viele untergebracht. Mehrere Generationen rücken
zusammen, um Miete und Energiekosten zu sparen. Studenten geben ihre Zimmer
in der Stadt auf, Senioren verlassen ihre eigene Bleibe.
Aber während die Not zugenommen hat, ist gleichzeitig die
Spendenbereitschaft geschrumpft. Bei ihren Bittanrufen bei Unternehmen und
Privatleuten hört Millie Rivera-Velez oft den Satz; „Es war kein gutes
Jahr. Versuchen Sie es nächsten Monat wieder.“ Sie glaubt nicht, dass sich
diese Lage verbessern wird, bevor es einen Impfstoff gibt. Und sie weiß,
dass es nicht hilfreich ist, von einem Präsidenten geführt zu werden, „der
für persönliche Bereicherung eintritt“ und nicht an „Hilfe der Regierung
für Menschen in Not glaubt“, wie sie sagt.
## Die geplatzten Träume vom eigenen Restaurant
Als im Frühjahr die [4][Pandemie in den USA ausbrach], wollte Anita Geary
ihr Restaurant in Middletown eröffnen. „Incredible Eat-Ables“ sollte es
heißen. Die Anträge waren bewilligt. Sie wollte Hausmannskost zu günstigen
Preisen anbieten. Hühnerfrikassee, Hackbraten und Schmorbraten. Zehn Jahre
lang bereitete sie sich vor. Sie ging zu einer Kochschule. Anschließend
lernte sie Betriebswirtschaft. Bei ihrer Arbeit als Postbotin fand sie die
Lücke für ein eigenes Geschäft: Sie wollte für Senioren kochen, die sich
nicht selbst versorgen können.
„Ich hatte einen Plan“, sagt Geary. Sie hat fünf Kinder großgezogen und in
zwei Jobs gearbeitet. Aber auf eine Pandemie war sie nicht vorbereitet.
Wenn sie nicht Eigentümerin des Hauses wäre, in dem sich das Restaurant
befindet, hätte sie das Lokal nicht halten können. Anstatt ein Restaurant
zu eröffnen, in das aus Angst vor einer Ansteckung niemand gegangen wäre,
begann sie damit, für Märkte in der Umgebung zu backen. Ihr Käsekuchen
wurde schnell ein Renner. Weil es keinen Kaffeeklatsch mehr gibt, verkauft
sie ihn nicht als ganzen Kuchen, sondern in individuellen Portionen. An
der Businessschule hat sie gelernt, mit dem Strom zu schwimmen. Sie ist
überzeugt, dass die Pandemie das Leben verändert.
Vorerst hat sich vor allem das Klima um sie herum verändert. Heute seien
mehr Bettler auf der Straße zu sehen als vor der Pandemie, sagt Geary. Die
Stimmung schwanke zwischen wütend und gereizt. Geary geht deswegen an den
Wochenenden nicht mehr einkaufen. „Ich bin eine Geschäftsfrau“, mit dieser
Begründung geht sie politischen Themen aus dem Weg. Geary weiß, dass die
Menschen einschließlich ihrer Kunden entweder auf der einen Seite oder auf
der anderen stehen. „Sie sind entweder für oder gegen Trump“, sagt sie,
„dazwischen gibt es nichts.“
Bis Thanksgiving hätte Geary acht Monate Zeit gehabt, um ihr Restaurant zu
etablieren. Dann wären die Kinder mit ihren Partnern und Kindern zu dem
Familienessen gekommen. Stattdessen hat sie Truthähne für Veteranen
gekocht. Von ihrer Familie will niemand kommen.
## Brandon Judell feiert nur per Zoom
Auch der Filmkritiker und Universitätsdozent Brandon Judell ist an
Thanksgiving nicht mit seiner Familie zusammen. Bevor er bei der
Präsidentschaftswahl im Gegensatz zu fast all seinen Verwandten für Joe
Biden gestimmt hat, gab es zwischen den beiden Seiten in der Familie
hitzige SMS-Wechsel. Die Neffen in der Provinz nannten den Onkel in New
York City linksradikal und naiv. Er warf ihnen vor, nicht kritisch zu
denken und zu viel Fox zu schauen. Aber alle in der Familie glaubten, dass
sie sich bis Thanksgiving wieder aussöhnen könnten.
Die Wahlen vom 3. November haben die Gräben stattdessen vertieft. Als seine
Schwägerin, eine fundamentalistisch eingestellte evangelikale Christin, ihn
wenige Tage später aufforderte, sich dem „Lord Jesus“ zuzuwenden, bat
Judell sie, ihn nicht zu missionieren, und erinnerte sie zugleich daran,
dass er jüdisch ist. Als er eine Karikatur verschickte, auf der die
Freiheitsstatue Donald Trump mit dem Elastikband einer Maske in die Luft
flippt, antwortete die Schwägerin, dass der „Lord“ die „Kinderopfer“ (…
abgetriebene Föten gemeint sind) und den angeblichem „Hass auf Israel“ in
Bidens Programm nicht akzeptiere. Die erwachsenen Neffen gaben ihr recht.
An Thanksgiving will Judell in diesem Jahr mit Freunden zoomen.
26 Nov 2020
## LINKS
[1] https://www.info-usa.de/thanksgiving/
[2] /Trump-und-die-Coronakrise/!5671628
[3] https://www.orangecountygov.com/
[4] /Coronavirus-breitet-sich-weiter-aus/!5671394
## AUTOREN
Dorothea Hahn
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