# taz.de -- Die Wahrheit: Mobbing unter Bäumen | |
> Die dunkle Seite des Waldes: Im dichten Unter- und Oberholz der Forste | |
> geht’s auch nicht solidarischer zu als unter Menschen. | |
Bild: Menschen ignorieren den brutalen Kleinkrieg der Bäume gern | |
Sie gelten als die Kuscheltiere des 21. Jahrhunderts, ja als die edlen | |
Wilden der Gegenwart: Bäume. Die guten Waldbewohner haben, spätestens seit | |
Peter Wohllebens Megaseller „Das geheime Leben der Bäume“, Hochkonjunktur. | |
Seither herrscht die Sage, sie seien edelmütig, ja geradezu aufopfernd, | |
hätten ein erfülltes Sozialleben, umsorgten einander, seien die | |
Saubermänner des Waldes. Aber längst nicht alle. | |
Im Teutoburger Wald in Niedersachsen, etwas abgerückt von der restlichen | |
Baumgruppe, steht eine knorrige Eiche. | |
„Der Strunzi hier ist schon ein echter Soziopath. Ganz schön | |
eigenbrötlerisch“, seufzt der Teutoburger Oberförster Hartmut Nierkens beim | |
gemeinsamen Rundgang und tippt gegen die borkige Rinde. Und ziemlich | |
introvertiert sei er auch. Es gelinge ihm einfach nicht, sich in die | |
umstehende Gruppe zu integrieren. Einsam und apathisch steht er drei Meter | |
abgerückt von der restlichen Baumgruppe. | |
„Kein Wunder, bei der Biografie“, murmelt Nierkens. Leicht hatte es der | |
Kauz als junger Triebling nicht: die Eltern unauffindbar, keinerlei | |
Schulbildung, dazu Borkenprobleme, „Akne floralis“. Der schrullige | |
Eichenbaum ist nicht der einzige, der dem medial gepflegten Image der gut | |
integrierten Pflanze hohnspricht. Was für diesen Sonderling gilt, gilt auch | |
für ganze Baumgruppen. Erst gestern wurde wieder eine schmächtige Birke | |
gemobbt, ihr das Grundwasser von anderen Waldbewohnern abgegraben. | |
## Die Wut des Försters | |
„Ja, sie ist hässlich, ja, sie sieht komisch aus, ist ein | |
borkenkäferzerfressener Krüppel und kann nicht bis drei zählen – aber das | |
ist doch kein Grund!“, ereifert sich der empathische Förster. „Wenn ich die | |
Schweine erwische“, flucht Nierkens und blickt drohend um sich: „Aber dann | |
tun wieder alle so, als wären sie’s nicht gewesen!“ | |
Mit „alle“ meint er die Übeltäter und ihre willfährigen Mobbinghelferlei… | |
die Spaltpilze. Die mickrigen Äste schon kahl vor Sorge, steht die Birke | |
noch immer reglos da und lässt sich nichts anmerken, aber das tun | |
Mobbingopfer oft. | |
Einen kurzen Fußweg weiter umringen vier stämmige Buchen eine junge hübsche | |
Linde. Sobald ein Sturm aufkommt, tanzen sie plump um sie herum mit ihren | |
dicken Ästen. | |
„Zweige weg, ihr Hallodris!“, donnert Förster Nierkens. „Und wenn ich sie | |
auf frischer Tat erwischt habe, wenn sie’s endlich in der Baumkrone sein | |
lassen, dann machen sie halt unterirdisch weiter“, ächzt der besorgte | |
Waldhüter und rauft sich das grau melierte Haar. Vor zwei Wochen erst tobte | |
ein Sturm mit Windstärke sechs und entwurzelte eine Fichte. | |
„Alle standen nur schweigend daneben, die ganze gaffende Menge, und keiner | |
half!“, empört sich Nierkens noch heute. Vor allem jetzt im Spätherbst | |
geben sich viele Bäume richtiggehend asozial, wenn sie alles mit ihren | |
bunten Blättern zumüllen und sich die nackten Astgabeln wie Stinkefinger in | |
den nebeligen Himmel recken. „Die glauben, sie seien die Baumkronen der | |
Schöpfung, könnten sich alles entlauben.“ | |
Klar, räumt der studierte Forstwissenschaftler ein, liege Peter Geldsack | |
Wohlleben nicht komplett falsch mit seiner entrückten | |
Räuber-Hotzenplotz-Waldidylle, seinem Wirtshaus im Spessart. Klar gäbe es | |
auch unter den Großgewächsen hier und da Kümmerer, gute Seelen, | |
Führungspersönlichkeiten mit sozialer Verantwortung. | |
## Der Krieg der Banden | |
Aber, auf der anderen Seite, auch jede Menge Psychopathen, Irre, | |
Giftspritzen, Meuchelmörder. Stammesfehden, Astgemenge noch bei der | |
kleinsten Windböe und verborgene Bandenkriege um Wasser und Mineralstoffe | |
gehörten zum traurigen Alltag. | |
Und doch, so sehr ihn die Eigenwilligkeit seiner Schützlinge oftmals | |
entzürnt, die unheimlichsten Geschöpfe seien ganz andere: Die hinter dem | |
Zaun, im nahen Zuchtwald. Die Ausgeburten der kultivierten Forstwirtschaft, | |
die Reihe in Reih gezüchtet werden. Das seien vielleicht problematische | |
Persönlichkeiten, sagt Nierkens. Jasager, Kopfnicker, Dienst nach | |
Vorschrift, wenig Rückgrat, angepasst, ja komplett gleichgeschaltet. | |
„So ein Genozid wäre denen jederzeit zuzutrauen, von deren degenerierter | |
Persönlichkeit her“, orakelt Nierkens düster. „Da muss nur mal so ein | |
charismatischer Ahorn ihrer Mitte entwachsen, da kann man für nichts | |
garantieren …“ | |
Über all das will der erfahrene Förster jetzt ein Buch schreiben, um mit | |
dem Musterknaben-image gründlich aufzuräumen. Die endgültige Antwort auf | |
Peter Wohlleben. „Baumdicke Lügen – die dunkle Seite des Waldes“ soll der | |
baldige Rowohlt-Bestseller heißen, oder „Im Wald ist es kalt – Mobbing und | |
soziale Kälte unter Bäumen“. Die ersten 1.270 Manuskriptseiten sind bereits | |
getippt. | |
24 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Ella Carina Werner | |
## TAGS | |
Mobbing | |
Bäume | |
Wald | |
Kolumne Die Wahrheit | |
Kolumne Die Wahrheit | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Alten- und Pflegeheime | |
Indonesien | |
Dänemark | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Lockdown in den Neunzigern | |
Stellen wir uns einen Moment vor, die Pandemie wäre vor einem | |
Vierteljahrhundert ausgebrochen – unter den Bedingungen der | |
Steinzeittechnik. | |
Die Wahrheit: Systemrelevantes Piksen | |
Wie lässt sich einem Beamten erklären, was eine Satirikerin tut? Was ist | |
das zu Coronazeiten für ein Beruf? Antworten gibt eine Hamburger Behörde. | |
Die Wahrheit: Geiler als jetzt geht’s nicht | |
Jugendliche sind die Leidtragenden im Lockdown? Haben kein bisschen Fun in | |
diesen, schweren Zeiten? Das wollen wir doch mal sehen … | |
Die Wahrheit: Unkraut jäten im Neurosengarten | |
The show must go on: In Schleswig-Holstein gibt es seit einiger Zeit ein | |
Altersheim für verarmte Künstler. Ein Ortsbesuch. | |
Die Wahrheit: „Fluffig wie Wollwatte“ | |
Im Westen von Sumatra gilt ein hohes Alter als Zeichen von Reife und | |
körperlicher Attraktivität. Das lässt die jungen Leute alt aussehen. | |
Die Wahrheit: Sind alle Dänen komplett hygge? | |
Ein spontaner Feldversuch zum dänischen Lebensgefühl Nummer eins mit | |
fatalen Folgen – nicht nur für skandinavische Arschbananen … |