# taz.de -- Jazzfest Berlin als Streamingfestival: Luftbrücke mit HipHop und H… | |
> Am Donnerstag startet das Jazzfest Berlin als virtueller Streaming-Event. | |
> Sein trotziges Motto: „Now Is the Time“. Konzerte werden zugeschaltet. | |
Bild: Spielte schon vor Obama: Saxofon Lakecia Benjamin | |
Gelegentlich bricht auch im Corona-Alltag noch durch, wie absurd diese | |
Realität ist, in der unsere Gegenwart abläuft. Zum Beispiel, wenn man im | |
Gespräch bemerkt, dass es eben gar nicht normal ist, die Parameter „Seuche | |
in New York City“ und „Bürgerkrieg in den USA“ in Betracht ziehen zu | |
müssen, wenn man ein Jazzfestival in Berlin plant. | |
Dass man eigentlich über die Berliner Szene reden müsste, über die Rolle | |
von Institutionen für die Entwicklung des Jazz und darüber, dass das | |
bürgerlich geprägte [1][Jazzfest Berlin] diesmal im migrantisch und | |
proletarisch geprägten Wedding stattfindet, weit weg von seiner aktuellen | |
Heimat, dem Haus der Berliner Festspiele. | |
Das wird gerade renoviert und fällt als Konzertort aus, mental ist das | |
Festival noch weiter weg von seiner früheren Heimstatt, der Berliner | |
Philharmonie: „Das Jazzfest hat eine fast [2][60-jährige Geschichte]. Wir | |
ziehen ein ganzes Universum mit um. Einen Ortswechsel vorzunehmen ist gar | |
nicht so einfach. Im Frühjahr waren wir in der Phase, in der man mit 100 | |
Bällen jongliert. Und dann trat Corona ein.“ | |
Die Unterhaltung mit der Leiterin des Jazzfests Berlin, Nadin Deventer, | |
fand unmittelbar vor dem Beschluss statt, dass alle Kulturverstanstaltungen | |
für vier weitere Wochen abgesagt werden müssen. Tagelang blieb unklar, ob | |
das Jazzfest auf den verschiedenen Bühnen des „Silent Green“ alternativ | |
digital ablaufen kann. Schließlich die ersehnte Nachricht aus dem Berliner | |
Senat: Für Streaming-Angebote können Kulturorte trotz Lockdown genutzt | |
werden. Das Jazzfest Berlin 2020 unter dem Jetzt-erst-recht-Motto „Now Is | |
the Time“ findet also statt – nur eben für ein Publikum vor den | |
Bildschirmen statt live am Ort. | |
Das Krisenjahr 2020 – aber das Festival absagen? „Nie“, sagt Deventer. | |
[3][„Das ist die Verpflichtung der Institutionen, weil wir so privilegiert | |
sind, wirtschaftlich]. Bisher sind unsere Jobs noch nicht gefährdet, wir | |
können ein Festival denken, ohne mit Eintrittseinnahmen zu kalkulieren. Ich | |
sehe uns gerade in der Verpflichtung gegenüber den Kolleg*innen in der | |
Technik und Infrastruktur und natürlich den Künstler:innen, das Spiel so | |
lange am Laufen zu halten, wie es geht.“ | |
Die internationale Vernetzung des Jazzfests half dabei, es neu zu denken, | |
die eigene Verflechtung mit den öffentlich-rechtlichen Radiostationen | |
entfaltete sich produktiv zu dem, was nun die dezentrale „Jazzfest Berlin | |
Radio Edition“ ist – eines der Standbeine des Festivals, mit regional von | |
acht Landesrundfunkanstalten eingespielten Konzerten, etwa der Sängerin | |
Natalia Mateo mit ihrer [4][Hommage an Bill Withers.] | |
## Szenarien im Papierkorb | |
„Wir haben von März bis November zig Szenarien entwickelt, die alle | |
funktioniert hätten, aber der Verlauf der Pandemie war so aberwitzig, dass | |
sie im Papierkorb gelandet sind“, seufzt Deventer. Zu den tragenden | |
Elementen der nun umgesetzten Version gehört, das Jazzfest um eine | |
Partnerstadt zu erweitern, die nicht nur eine lebendige Jazzszene bietet, | |
sondern auch zu den am härtesten von Covid getroffenen Orten zählt: Die | |
Brücke New York–Berlin, auch abseits des Jazz musikalisch längst etabliert, | |
leidet unter den Beschränkungen. Ein internationales Jazzfest, das nur | |
schwer mit der Einreise internationaler Künstler*innen rechnen kann, | |
sowieso. | |
Ein Teil des Festivals war daher ohnehin digital erdacht – live übertragene | |
Konzerte im renommierten, aber leeren New Yorker Club Roulette sollen mit | |
den Konzerten auf den Bühnen des Silent Green in Dialog treten, in drei | |
künstlerischen Tandems. | |
1978 gegründet, spielten bei der Einweihung der heutigen Spielstätte des | |
„Roulette“ unter anderem Laurie Anderson und John Zorn, nun treten für das | |
Jazzfest etwa die Saxofonistin Lakecia Benjamin, die bei der Amtseinführung | |
Barack Obamas 2008 spielte, und das New Trio des Pianisten Craig Taborn | |
auf, der als einer der Hauptvertreter der Fusion von Jazz und Electronica | |
gilt. „Auch auf Berliner Seite spielen viele US-Künstler:innen“, so | |
Deventer. „Es ziehen immer mehr nach Berlin, weil die Situation in Amerika | |
immer schwieriger wird.“ | |
## Schubser für die Szene | |
Now is the time: Natürlich ist die Situation für die Jazzszene auch ein | |
Schubser. Wie jede Krise jenen Chancen bietet, die schon zuvor privilegiert | |
waren, bietet auch der digitale Umbau des Jazzfests Möglichkeiten in Bezug | |
auf Zugänge und Inhalte. Sind die Reisen großer Combos angesichts des | |
Klimawandels zeitgemäß? Wie kann das Lokale mit dem Globalen nachhaltiger | |
verzahnt werden? Die Situation lässt solche Fragen konkreter beantworten. | |
Klar ist aber auch: Jazz und körperliche Distanz sind kein match made in | |
heaven. Der enge Keller, das stickige Nebeneinander und das | |
Durcheinanderpalavern gehören zur Musik wie das Saxofon. Das hat das | |
Jazzfest Berlin in den letzten Jahren immer wieder aufgegriffen, mit | |
Konzerten in Clubs außerhalb der Komfortzone, mit der Auflösung der | |
Bühnensituation im Theatersaal der Festspiele. Ist der digitale Raum als | |
intimer Ort eher eine Fortsetzung dieses Gedankens oder sein Gegenteil? | |
Erste Eindrücke dieser Digitalversion lassen sich am Donnerstag Abend | |
gewinnen. Dann steigt das Festival mit einer Performance des | |
Improvisationskünstlers Joel Grip ein: Sie erkundet die Kunstsprache „Ap | |
Lla“ in rituellen Zeremonien und mit Anklängen an HipHop und Hildegard von | |
Bingen. | |
5 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Steffen Greiner | |
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