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# taz.de -- Ethikrätin Graumann zu Maßnahmen: „Furcht vor dem Kontrollverlu…
> Warum gibt es bei 11.000 Coronatoten einen Lockdown, während 25.000
> Grippe-Opfer und 30.000 Sterbefälle durch Raucherkrebs in Kauf genommen
> werden?
Bild: „Jeder Kontakt ist einer zu viel“ (Sebastian Kurz, Bundeskanzler Öst…
taz: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben
zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht
richtig“, erklärte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im vergangenen
April, als das öffentliche Leben wegen Corona zum ersten Mal eingefroren
wurde. Seit zwei Wochen gibt es nun neue Kontaktbeschränkungen. Teilen Sie
Schäubles Zweifel, Frau Graumann?
Sigrid Graumann: Ja, ich kann den Gedanken nachvollziehen. Dem Recht auf
Leben kommt zwar eine sehr hohe Bedeutung zu. Andere Rechte und wichtige
Güter wie die persönliche Freiheit müssen wir aber dagegen abwägen.
Schäuble wurde wegen seiner Äußerung Kaltherzigkeit vorgeworfen. Das kann
ich nicht unterschreiben.
Bisher sind an Corona hierzulande etwa 12.000 Menschen gestorben. Die
normale Sterblichkeit liegt bei rund 940.000 pro Jahr. Warum sind
erhebliche Einschränkungen der individuellen Freiheiten im Falle dieser
Pandemie gerechtfertigt, obwohl die Zahl der Sterbefälle nur um 1,3 Prozent
steigt?
Es geht nicht um die absolute Zahl. Die ist im Vergleich zur
Gesamtsterblichkeit bisher in der Tat nicht hoch. Die entscheidenden Fragen
lautet: Was passiert bei exponentiellem Wachstum, also einer Vervielfachung
der Infektionen und Todesfälle innerhalb kurzer Zeiträume? Können wir die
Kranken dann noch human versorgen und unnötige Todesfälle vermeiden? Die
Situation kann sehr schnell außer Kontrolle geraten. Davor haben Medizin
und Politik zu Recht Angst.
2017/18 starben in Deutschland etwa 25.000 Leute an der Grippe. Pro Jahr
sterben etwa 30.000 Männer an Lungenkrebs. Hohe Todeszahlen aus diesen
Gründen bringen unsere Gesellschaft nicht aus der Ruhe. Warum ist das bei
Corona anders?
Sollte die Zahl der Coronakranken auf den Intensivstationen und damit die
Zahl der schweren Fälle rapide zunehmen, hat das möglicherweise dramatische
Folgen für das gesamte Gesundheitssystem. Dann können auch viele Patienten,
die an anderen Krankheiten leiden, nicht mehr gut versorgt werden. Von
diesen würden ebenfalls viele sterben – als Folge von Corona. Noch mal:
Nicht die absolute Zahl ist der Punkt, sondern die Angst, mit schwer
Kranken insgesamt nicht mehr human umgehen zu können.
Aber wir wissen nicht, ob es wirklich so kommt.
Wir können nicht einschätzen, wie es weitergeht. Hoffentlich bleiben die
Zahlen im beherrschbaren Bereich. Aber die Gefahr angesichts des
exponentiellen Wachstums ist real, und sie macht uns Angst. Politik und
Gesellschaft fürchten sich vor dem Kontrollverlust. Das liegt auch daran,
dass wir uns mit Corona immer noch zu wenig auskennen.
Starren wir vielleicht zu sehr auf das mögliche exponentielle Wachstum?
Die Politik handelt nach wie vor unter der Bedingung großer Unsicherheit.
Man weiß nicht genau, wo und wie sich das Virus ausbreitet und mit welchen
Maßnahmen genau das effektiv verhindert werden kann. Deshalb ist es auch
unklar, wie welche Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens
wirken und wann ihre Effekte eintreten. Wir müssen dringend mehr forschen,
um gezieltere Schutzmaßnahmen entwickeln zu können.
Geht die Gesellschaft mit den anderen Krankheiten, die viel mehr Opfer
fordern als Corona bisher, entspannter um, weil man deren Risiko besser
einschätzen kann?
Krebs oder Herzinfarkt zum Beispiel sind nicht ansteckend. Eine
exponentielle Verbreitung der Erkrankungen ist unmöglich. Deshalb lösen
diese Krankheiten trotz hoher Todeszahlen keine Angst vor Kontrollverlust
aus. Und im Gegensatz zur Grippe haben Medizin und Politik bei Corona das
Problem, dass weder die Verbreitung noch die Behandlung des Virus richtig
verstanden sind. Wir kennen die Risikofaktoren zu wenig.
Werden wir auch bei Corona irgendwann höhere Todeszahlen tolerieren, weil
wir uns daran gewöhnen und das Risiko kennen?
Wenn später die Gefahr des Kontrollverlustes durch Impfungen, bessere
Therapien, Wissen über die Ansteckungswege und gezielte Schutzmaßnahmen
abnimmt, akzeptiert die Gesellschaft eventuell höhere Zahlen. Dann wird man
vielleicht dazu kommen, die negativen Wirkungen der Schutzmaßnahmen ernster
zu nehmen. Man könnte beispielsweise die Vermeidung von Coronatoten und
mögliche Todesfälle durch unterlassene Operationen anders abwägen als
heute.
Dann wären auch 20.000 oder 30.000 Coronatote pro Jahr erträglich – wie bei
der Grippe?
Solche absoluten Zahlen möchte ich nicht nennen.
Finden Sie diese Erwägung zu brutal, amoralisch, zynisch?
Sie stellen harte Fragen. Antworten darauf können schnell in politisch
schwieriges Fahrwasser führen. AfD-Fraktionschef Alexander Gauland
argumentierte kürzlich im Bundestag mit einem Vergleich: Unsere
Gesellschaft akzeptiere 3.000 Verkehrstote jährlich, ohne den Autoverkehr
zu verbieten. In dieser Sichtweise können auch 10.000 oder mehr Coronatote
tolerabel erscheinen. Ich halte dagegen: Vermeidbare Todesfälle sollte man
niemals einfach hinnehmen.
Warum unterhalten wir uns gesellschaftlich nicht offen darüber, wie viele
Tote wir in welchem Fall akzeptieren – oder tun wir es?
Nein, das wird meist vermieden. Tod und Sterben sind in unserer
Gesellschaft weitgehend tabuisiert. Vielleicht hat es damit zu tun, dass
die Unkontrollierbarkeit des Todes dem Wunsch nach Sicherheit und
Planbarkeit widerspricht. Das macht es aber auch schwerer, rational mit dem
Coronarisiko umzugehen.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und zahlreiche weitere Ärzteverbände
haben die aktuellen Kontaktbeschränkungen kritisiert. Sie widersprächen
teilweise dem fundamentalen ärztlichen Prinzip, an erster Stelle Schaden zu
vermeiden. Die wirtschaftlichen und sozialen Schäden seien zu gravierend.
Was halten Sie davon?
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft und
weitere Wissenschaftsorganisationen sagen das Gegenteil. Die Wissenschaft
ist uneins. Aber so funktioniert sie eben: Thesen werden aufgestellt,
kritisiert, bestätigt, verworfen oder verändert. Und dabei nähern wir uns
der Wahrheit über das Virus langsam an. Das spricht gegen „alternative
Fakten“ ebenso wie gegen eine naive Wissenschaftsgläubigkeit.
Lassen sich vermiedene Coronasterbefälle ethisch belastbar abwägen gegen
die Schäden, die die Coronapolitik medizinisch, psychisch, wirtschaftlich
und politisch verursacht?
Abwägen ja, aber nicht aufrechnen. Man kann subjektiv qualifizieren und
entscheiden, dass beispielsweise Bildung wichtiger ist als Unterhaltung und
dass die Schulen geöffnet bleiben, während die Theater wieder schließen
müssen. Eine konkrete Gegenüberstellung von geretteten Leben und dadurch
verursachten Kosten wäre jedoch unethisch. Denn damit würde man dem Leben
ein Preisschild anheften.
Notwendige Operationen werden verschoben, Kranke trauen sich nicht, zum
Hausarzt zu gehen, alte Leute verfallen in Depression. Werden diese Folgen
ausreichend berücksichtigt?
Während des jüngsten Lockdowns in Berchtesgaden durften anfangs nicht mal
Seelsorger die Patienten in Pflegeheimen besuchen. Durch solche
unzumutbaren und unverhältnismäßigen Einschränkungen erleiden Menschen, die
man eigentlich schützen will, erhebliche Schäden – beispielsweise
verstärken sich Demenzen. Ich empfehle stattdessen regelmäßige Coronatests
der Mitarbeitenden und kleinere Betreuungsgruppen. Das kostet mehr Geld,
ist aber wirksamer und menschenfreundlicher. Und noch etwas: Man sollte
endlich die Sammelunterkünfte für Flüchtlinge auflösen und die Leute in
einzelnen Wohnungen unterbringen. Das wäre zweifellos eine wirksame
Maßnahme.
Im Zuge der neuen Einschränkungen sind nun auch die Kinos wieder
geschlossen, obwohl man sich dort aufgrund der ohnehin schon
vorgeschriebenen großen Abstände zwischen den Zuschauern quasi nicht
anstecken konnte.
Ja, denselben Eindruck hatte ich bei Theaterbesuchen. Ich fühlte mich
sicher. Aber darum geht es nicht.
Agieren die Regierungen unplausibel?
Ja, aber angesichts des Zeitdrucks durch rasch steigende Infektionszahlen
hatte die Politik kaum eine andere Möglichkeit. Es ist aktuell notwendig,
das soziale Leben generell wieder stark einzuschränken. Richtig ist aber
auch: Wir brauchen künftig differenziertere Maßnahmen. Vorausgesetzt dafür
ist zum einen mehr Wissen und zum anderen, dass genauere Maßnahmen auch
politisch durchgesetzt werden können.
Sollten Bund und Länder bei ihrem Treffen am Montag beschließen, die
Einschränkungen ab Anfang Dezember wieder zu lockern?
Ich fürchte, das wäre, so sehr wir uns alle eine Rückkehr zur Normalität
wünschen, zu früh. Wir sehen ja eben die allerersten Anzeichen dafür, dass
die Kontakteinschränkungen wirken. Das sollten wir nichts aufs Spiel
setzen. Schließlich geht es ja darum, einen harten Lockdown zu vermeiden.
15 Nov 2020
## AUTOREN
Hannes Koch
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