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# taz.de -- Ein Lob der Streitkultur: Bock auf Zoff
> Meine Freundin A. und ich, wir streiten uns oft. Egal wie heftig es wird,
> unsere Freund:innenschaft hält das aus – weil ein Konsens uns wie ein
> Spielfeldmarker umzäunt.
Bild: Willst du Streit?
Meine Handbewegung ist bedacht, als ich die Karotte in streichholzgroße
Stäbe schneide. So hat meine Freundin A. es mir für das Bibimbap
aufgetragen. Währenddessen brät sie den Tofu an und [1][spricht über Mark
Fishers Buch „Capitalist Realism“.] Ich müsse es unbedingt lesen. Und
endlich diesen einen Vortrag über die Kritik an Edward Saids
Orientalismuskritik schauen. Damit wir endlich darüber streiten können.
A. und ich, wir widersprechen uns oft. Ob in Instagram-Nachrichten,
Gruppenchats oder beim Abhängen, unsere Gespräche haben ein Zickzackmuster.
Eine Person von uns sagt etwas und die andere schiebt ein Gegenargument
ein. So geht es stundenlang. Manchmal wird es emotionaler, wir gehen an die
Substanz und piksen uns dorthin, wo es am meisten wehtut. Es gibt
Augenblicke, da bin ich so sauer. Warum spricht sie jetzt so wie diese
Leute, die wir vor ein paar Jahren noch gemeinsam leidenschaftlich gehasst
haben, ist sie jetzt etwa auch so eine, ich dachte, wir wären befreundet?
Die dampfende Reisschale ist angerichtet, ich brate mir noch schnell ein
Bio-Spiegelei als Topping, sie verzichtet und hört mir dabei zu, wie ich
diese eine Bekannte mit der toxischen Social-Media-Präsenz doch irgendwie
verteidigen muss. Das regelmäßige „hm“ soll signalisieren, dass sie noch
folgt, es impliziert aber auch, wie gern sie jetzt einhaken würde, obwohl
ich noch nicht ausgesprochen habe. Sie unterbricht mich nicht.
An meinem Gaumen brennt es leicht, irgendetwas in der Schüssel war noch zu
heiß, als A. ein besonders aufwühlendes Thema hervorholt. Es ist gut, dass
ich kurz nicht fähig bin zu reden, denn obwohl ich dachte, alle ihre
Argumente schon zu kennen, stellen sich die meisten doch als unerwartet und
überraschenderweise schlüssig heraus. Ja, ich stimme ihr zu, aber bringt
das konsequenterweise nicht mein ganzes Gedankengerüst ins Zittern? Welche
Angst ist größer: jene davor, im Unrecht zu sein, oder die, dass mein
Selbstverständnis ins Schwanken gerät?
In den wichtigsten Dingen sind wir uns einig. Wir können uns auf einen
Konsens verlassen, der uns wie ein Spielfeldmarker umzäunt: Antifaschismus
und Feminismus finden wir super, jeden Antisemitismus und Rassismus
hingegen scheiße, Kapitalismus sowieso, Sexarbeit muss dekriminalisiert
werden, her mit trans Rechten, weg mit Nationalstaaten (Deutschland zuerst,
Israel zuletzt) und we don’t call the cops. Egal wie heftig wir uns bei
allem anderen streiten, unsere Freund:innenschaft hält das aus. Wir
vertrauen uns gegenseitig darin, uns nicht zu canceln, obwohl wir jede
Uneinigkeit ausdiskutieren, wenn auch mit dem Fazit des Dissenses. Wir
lieben und respektieren uns nicht deshalb, weil wir davon politisch
profitieren.
Beim Abschied sind wir sehr müde, aber glücklich, wir haben viel gelacht,
auch wenn man es dem Text nicht anmerkt, und wir sagen: Wir müssen das
öfter machen, das war schön.
19 Nov 2020
## LINKS
[1] /Nachruf-auf-Mark-Fisher/!5374241
## AUTOREN
Hengameh Yaghoobifarah
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