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# taz.de -- Corona-Lockdown in Österreich: A bisserl was geht immer
> Geschäfte, Lokale, Schulen – fast alles ist seit Dienstag in Österreich
> dicht. Doch viele Wiener scheinen das eher locker zu nehmen.
Bild: Der erste Tag des strengen Lockdowns, hier in der Wiener Innenstadt
Wien taz | Beim Humanic auf der Wiener Mariahilfer Straße gibt es am
Montag, dem letzten Tag vor dem österreichischen Lockdown, noch 20 Prozent
Rabatt auf jedes Paar Schuhe. Am vergangenen Samstag waren es noch 50
Prozent. Egal: Die Schlange vor dem Geschäft reicht bis zur nächsten
Straßenecke.
Auch andere Schuhgeschäfte, Boutiquen und Möbelhäuser treten in den
Preiskampf ein. In der Shopping City Süd vor den Toren Wiens muss die
Polizei den Zugang zu einem schwedischen Möbelhaus regeln. Es scheint, als
würde das Geschäftsleben in Österreich nicht für voraussichtlich knapp drei
Wochen lahmgelegt, sondern als müsste man gewärtigen, ein ganzes Jahr lang
nackt und barfuß in kahlen Wohnungen zu sitzen. Selbst in den Supermärkten,
die auch während des Lockdowns offen bleiben, ist der Andrang am Montag
spürbar größer.
Am Abend vor dem [1][Lockdown] strahlt die Wiener Innenstadt in festlicher
Weihnachtsdekoration. Im Foyer beim Meinl am Graben wird Punsch
ausgeschenkt. Frauen mit Papiertaschen aus Boutiquen hasten durch die
Straßen. Im exklusiven Designer-Shop Miu Miu, der zur Prada-Gruppe gehört,
waren schon am Samstag, als die Gerüchte über einen bevorstehenden Lockdown
die Runde machten, verstärkt Kunden gekommen, um die hochpreisigen Kleider,
Schuhe und Taschen zu kaufen, wie die junge Verkäuferin mitteilt. Auf den
Bänken am Graben sitzen Paare, Familien und kleine Gruppen dicht an dicht.
Maskiert sind nur wenige.
## Seit Dienstag ist die U-Bahn leer
18 Stunden später, am Dienstag um die Mittagszeit, wird die Mariahilfer
Straße von flanierenden Müttern mit Kinderwagen bevölkert. Vor dem
geschlossenen Geschäft der Dessous-Kette Palmers exponiert eine Bettlerin
ihr verkrüppeltes Bein. Das Aufkommen von Fahrradboten und Essenszustellern
hat sichtbar zugenommen. In der U-Bahn ist deutlich mehr Platz als sonst,
weil die Wiener Linien ihren Fahrplan unverändert aufrechterhalten. Am
Straßenverkehr ist nicht abzulesen, dass sich Österreich seit Dienstag null
Uhr in einem strengen Lockdown befindet.
Auch die Bänke in der Fußgängerzone am Graben, mitten im Ersten Wiener
Bezirk, sind locker besetzt. Zwei Polizisten, die vor der berühmten
Pestsäule in ihrem Wagen sitzen, sehen keinen Anlass einzuschreiten.
Gruppen von drei Personen, die es eigentlich nicht mehr geben darf, werden
nicht auseinandergetrieben. Niemand kontrolliert, ob die Passanten wirklich
aus einem der vier noch zulässigen Gründe unterwegs sind. Spazieren gehen
und Sport an der frischen Luft ist einer davon.
Der neue Lockdown wurde verhängt, weil der alte, seit dem 3. November
geltende „Lockdown light“ kein signifikantes Abflachen der Infektionskurve
bewirkt hat, sondern Österreich stattdessen den weltweit höchsten Anstieg
verzeichnet. Ein Durchschnitt von über 7.000 Neuinfektionen über die letzte
Woche und Spitzenwerte von nahezu 10.000 positiv Getesteten innerhalb von
24 Stunden haben in den Spitälern den Alarmzustand ausgelöst.
## Krankenhäuser arbeiten am Limit
In einem Land, das sich eines der besten Gesundheitssysteme der Welt rühmt,
mag das erstaunen. Aber der österreichische Rundfunk ORF transportiert in
diesen Tagen erschreckende Einblicke in die Realität des Leidens und des
Sterbens, als der Sender die Oberärztin Katharina Reich mit einer Kamera
ausgestattet in die Intensivstation der Wiener [2][Klinik Hietzing]
schickt. Da sieht man Menschen im Dämmerschlaf, die an einem
Beatmungsschlauch und einem Medikamentenkatheter hängen. Die Oberärztin,
gleichzeitig stellvertretende Direktorin der Klinik, tritt dem Gerücht
entgegen, dass vor allem ältere Menschen dort landen würden: „Der älteste
Patient ist momentan 62“, sagt sie. Der Altersdurchschnitt liege zwischen
45 und 55 Jahren.
Das Problem sei, dass es bisher keine standardisierte Behandlung von
Covid-19 gebe. Menschen würden mitunter völlig unvermutet sterben. Auf dem
Video ist zu sehen, wie personalintensiv die Betreuung auf diesen Stationen
ist. Allein um einen Patienten von Rücken- in Bauchlage zu befördern,
müssen vier bis fünf Menschen mit anpacken. Der Pfleger Leo Rosenthaler
blickt der nahen Zukunft pessimistisch entgegen: „Es ist nicht gesagt, dass
man bei jedem Patienten die Körperpflege täglich im vollen Ausmaß
durchführen kann. Aber momentan geht’s noch.“
In einer Radioreportage schildert eine Krankenschwester, wie anstrengend
allein das stundenlange Tragen der Schutzkleidung ist. Schon das An- und
Ausziehen sei mühsam. Das Pflegepersonal trage zwei Gummihandschuhe
übereinander.
Die Klinik Hietzing stockte dieser Tage die Intensivstation von acht auf
zwölf Betten auf. Zwei Wochen oder noch länger bleiben die meisten schweren
Fälle dort. Dann werden sie in die normale Covid-Station verlegt oder in
die Sterbestatistik eingetragen.
## Die Politik auf Tauchstation
Bundeskanzler [3][Sebastian Kurz] (ÖVP) hatte im Frühjahr, zu Beginn der
Pandemie, prophezeit, am Ende würde jeder jemanden kennen, der an Covid-19
gestorben sei. Das ist noch immer eine apokalyptische Übertreibung. Im
Frühjahr und Sommer hat die Sterbestatistik gegenüber dem langjährigen
Durchschnitt keinen Ausschlag gezeigt, seit Mitte Oktober aber hat sich das
geändert. Täglich werden bei einer Bevölkerungszahl von etwa 9 Millionen
Menschen zwischen 20 und 60 neue Todesfälle registriert. Das sind weit mehr
als auf dem Höhepunkt der ersten Welle im April.
Damals folgten die Menschen dem strengen Regiment ohne Murren. Eine noch
junge Regierung, deren Vertreter eingestanden, dass sie angesichts einer
mit ungekannter Vehemenz voranschreitenden Pandemie oft auf gut Glück
agierte, genoss einen gewissen Vertrauensvorschuss. Und die rasche Öffnung,
der Sommer, der fast so etwas wie Normalität vorspiegelte, stimmte die
Bevölkerung optimistisch. Die Politik fiel mit ein: Der Kanzler sah bereits
„das Licht am Ende des Tunnels“, der Gesundheitsminister hoffte, ohne
scharfe Maßnahmen bis zur Impfung durchtauchen zu können.
Seine Warnungen, dass der Herbst, wenn sich das Leben wieder mehr in
geschlossenen Räumen abspiele, mehr Disziplin erfordern würde, überhörte
man geflissentlich. Da half weder die komplett auf Rot geschaltete
Corona-Ampel noch die Kontaktsuche. Das Corona-Quartett der Regierung –
Kanzler Sebastian Kurz, [4][Innenminister Karl Nehammer] (beide ÖVP),
[5][Vizekanzler Werner Kogler] und [6][Gesundheitsminister Rudolf
Anschober] (beide Grüne), das im Frühjahr fast im Wochentakt aufgetreten
war, ging auf Tauchstation. In den Medien munkelte man, Kurz würde gerne
nochmals den Zuchtmeister spielen, Anschober, der als der gute Onkel
auftritt, bremse. Zuerst setzte sich der gute Onkel durch: Es gab nur den
mit vielen Appellen an die Vernunft verbrämten „Lockdown light“, der zwar
die Gastronomie und Hotellerie aus dem Verkehr zog und das Kulturleben
lahmlegte, aber das Geschäftsleben und den Schulbetrieb nicht weiter
einschränkte. Doch die Kurve wollte nicht abflachen.
Also tritt in der letzten Woche der Zuchtmeister auf und verordnet
Ausgangsbeschränkungen rund um die Uhr und die Schließung der meisten
Geschäfte. Zur Empörung vieler Leser sind auch Büchereien und Bibliotheken
in die Kategorie „Orte der Belustigung“ eingeordnet worden und daher
geschlossen. In den sozialen Netzwerken grübelt man, warum Waffengeschäfte
hingegen als systemrelevant gelten und offen bleiben dürfen.
## Auch Haareschneiden ist verboten
„Körpernahe“ Dienstleistungen wie Haareschneiden oder Fußpflege bleiben
ebenso verboten wie der Verkauf von Waren, die nicht zur Grundversorgung
gehören. Unterricht findet grundsätzlich nur mehr auf Distanz statt. Die
Schulen bleiben nur für jene Kinder offen, deren Eltern die Betreuung nicht
selbst übernehmen können. Grundsätzlich besteht eine Ausgangssperre rund um
die Uhr. Ausgenommen davon sind freilich der Weg zur Arbeit, zum Einkaufen,
Hilfsleistungen für andere und Sport oder Spaziergänge. Damit kann jeder
einen Grund glaubhaft machen, warum er oder sie sich gerade auf der Straße
aufhält.
Viele Bestimmungen der neuen Verordnung bleiben vage, etwa der Begriff
„einzelne Personen“, die man noch treffen darf. Entsprechend schwer tut
sich Innenminister Nehammer mit der Definition, in welchen Fällen die
Polizei strafend eingreifen soll.
Der Begriff Pandemiemüdigkeit beschreibt den kollektiven Gemütszustand der
Wiener am besten, der sich nach acht Monaten des Abstandhaltens, der
Vorsicht und des Verzichts breitgemacht hat. Anders als im Frühjahr genießt
das Corona-Quartett heute keinen Vertrauensvorschuss mehr. Kanzler Kurz und
sein Krisenkabinett haben es versäumt, über den Sommer kohärente Pläne zu
entwerfen. Bildungsminister Heinz Faßmann macht den Eindruck, als sei er zu
Schulanfang im September von Corona überrascht worden. Und die
Tracing-Teams in den Bundesländern müssen zugeben, dass sie inzwischen 77
Prozent der Ansteckungsfälle nicht mehr zu ihrer Quelle zurückverfolgen
können.
Erst in 10 bis 14 Tagen werden die Infektionszahlen zeigen, ob die
Österreicher trotz des lockeren Umgangs mit den neuen Einschränkungen den
Ernst der Lage erfasst haben. Oder ob der Stillstand verlängert werden
muss.
17 Nov 2020
## LINKS
[1] /Hoechste-Pro-Kopf-Infektionsrate-der-Welt/!5728532
[2] https://wien.orf.at/stories/3071531/
[3] /Biografie-ueber-Sebastian-Kurz/!5621283
[4] https://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_02136/index.shtml
[5] https://www.bmkoes.gv.at/Ministerium/Bundesminister.html
[6] https://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_00024/index.shtml
## AUTOREN
Ralf Leonhard
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