# taz.de -- Die Wahrheit: Früher war alles schärfer | |
> Wir wollen nicht gleich nostalgisch werden, aber wenn Berufe aussterben, | |
> sterben auch entsprechende, nun, Originale aus. | |
Bild: Danach ist Tante Sybilles Silberne Hochzeit ein Klacks | |
Ach, wie schön! Die Scherenschleifer sind da, dachte ich, als sie beim | |
Nachbarn hielten und Sturm klingelten. Scherenschleifer kannte ich noch aus | |
meiner Erinnerung, weil ich mich an die Geschichten erinnerte, die mir | |
meine Oma über diese bereits zu ihren Lebzeiten längst rar gewordene Zunft | |
zu erzählen wusste. Eine ziemlich bunte Truppe war das damals. | |
Der eine, Bernie, hörte immer so etwas wie Rap-Musik, während er die | |
Klingen zum Blitzen brachte. „Schnipp-Hop“, wie er mit einem Zwinkern zu | |
sagen pflegte, das er nicht mehr wegbekam, seit die anderen ihn für seine | |
Wortwitze zünftig zugerichtet hatten. | |
Diese Musik hatte er in Amerika aufgeschnappt, wohin es ihn nach einer | |
zerbrochenen Ehe verschlagen hatte. Auch in den Vereinigten Staaten hatte | |
er sich als Scherenschleifer durchgeschlagen, damals aber noch für | |
Linkshänder- und Bastelscheren. Andere Zeiten waren das, sagte er wehmütig, | |
wenn er irgendwo ein ausgefranstes Zickzackmuster zu Gesicht bekam. | |
Ein zweiter, Kurt, ein Bär von einem Mann und wohl auch ein Mann von einem | |
Bär – denn auch wenn Homosexualität damals noch nicht offen ausgelebt | |
werden konnte, erkannte meine Oma doch die Zeichen –, betrachtete am | |
liebsten kundig die Oberarme sämtlicher Jungen, wobei er jedes Mal zu dem | |
selben Schluss kam: „Burschi, da musst du aber noch ne Menge Mettwurstbrote | |
mehr essen.“ | |
## Hermann nahm's nicht krumm | |
„Diese, Jenische, Welsche“, sagte mein Großvater immer zu ihnen, wenn sie | |
unser Grundstück betraten und ihre Fäuste notgedrungen auch mit unserem | |
Wachhund Hermann Kontakt aufnahmen, um zu unserer Haustür zu gelangen. | |
Hermann nahm ihnen das aber nicht krumm. | |
Vermutlich nannte Großvater sie so, weil die Worte „Sinti“ und „Roma“ … | |
seinerzeit nicht über die Lippen kamen, schließlich sagte er sowieso | |
meistens „Zigeuner“ oder „Lumpenpack“, was sich die drei Scherenschleif… | |
die eigentlich aus dem Ruhrgebiet stammten, ungerührt gefallen ließen, denn | |
schließlich war auch damals schon der Kunde König. | |
Heute würde mein Großvater solche unpassenden Ausdrücke nicht mehr in den | |
Mund nehmen, was vor allem seinem Verscheiden im Jahr 1993 zu verdanken | |
ist, Gott oder wer auch immer hab ihn selig. | |
## Helmi mit Roth-Händle | |
Am liebsten von den drei Scherenschleifern mochte ich aber Fredi Helmstedt, | |
genannt Helmi. Der brachte meiner Oma nämlich immer die guten Roth-Händle | |
ohne Filter mit, die sie damals so intensiv rauchte, dass es aus ihr nur so | |
qualmte. | |
Ach, ich hätte noch stundenlang in den Erinnerungen an die Erinnerungen | |
schwelgen können. Doch das Klappern der wieder abziehenden Scherenschleifer | |
riss mich aus meinem Tagtraum. Und als ich aus dem Fenster sah, kam die | |
ernüchternde Erkenntnis: Moment mal! Scherenschleifer, dieses Handwerk gibt | |
es doch gar nicht mehr! Und ich hatte recht. Die Leute, die ich gesehen | |
hatte, waren bloß Kesselflicker. | |
4 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Ernst Jordan | |
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