| # taz.de -- Die Wahrheit: Gold oder Laib | |
| > Das wahre Käsemärchen: Wie der Herr von der Linden einmal die Lösung für | |
| > sämtliche Probleme dieser Welt fand. | |
| Bild: Der Bote eines fernen Königs wollte allen Käse kaufen | |
| Es war einmal ein sehr reicher Mann, den nannten alle nur den Herrn von der | |
| Linden, der hatte einen riesigen Käse. So groß war der Käse, dass er alle | |
| Bewohner Nemetskiens für viele Jahre hätte ernähren können. | |
| Doch der Herr von der Linden wollte den Käse nicht teilen, so oft man ihn | |
| auch bat. Lieber wollte er den Laib behalten und später an einen König in | |
| einem fernen Land verkaufen, wenn dieser ihm nur genug Geld böte. | |
| Immer lauter wurden da die Rufe der Bewohner Nemetskiens, Herr von der | |
| Linden, wir hungern, riefen sie und baten ihn, doch zumindest ein paar | |
| Stücke vom Käse abzuschneiden und unter die vielen darbenden Bürger zu | |
| verteilen. Und auch der Herr von der Linden machte sich Sorgen, allerdings | |
| nicht um die Bürger. Er machte sich Sorgen um seinen Gewinn. Denn während | |
| er auf das Geld des fernen Königs wartete, musste er zahlreiche Leute dafür | |
| bezahlen, sich um den Käse zu kümmern, damit dieser nicht verdarb. | |
| Also fragte er seinen Berater, ob er nicht wenigstens einige seiner | |
| Käsearbeiter entlassen könnte, um während des Wartens auf Bezahlung Geld zu | |
| sparen. Nein, sagte da der Berater, alle Leute werden gebraucht. | |
| ## Verdorbener Käse | |
| Erbost fragte der Herr von der Linden dann seinen Berater „Wozu brauche ich | |
| denn dich?“ Da sagte der Berater, Herr von der Linden, ohne mich hätten Sie | |
| die Arbeiter entlassen und der Käse wäre verdorben. Da musste der Herr von | |
| der Linden wohl oder übel einsehen, dass er den Berater brauchte. | |
| Wütend ging er nun zum Randbefeuchter, der ganz zufällig in der Nähe stand, | |
| und fragte ihn: „Und dich, Randbefeuchter, wozu brauche ich eigentlich | |
| dich?“ Da antwortete ihm der Randbefeuchter, Herr von der Linden, ich | |
| befeuchte stündlich den Käse, sogar nachts stehe ich dafür auf, damit er | |
| frisch bleibt und nicht krümelt und zerfällt. Da musste der Herr von der | |
| Linden achselzuckend einsehen, dass er auch den Randbefeuchter brauchte. | |
| Also ging er zur Lohnschneiderin und fragte auch diese: „Lohnschneiderin, | |
| wozu brauche ich denn dich? Du machst ja sogar, dass mein Käse immer | |
| weniger wird!“ Da sagte die Lohnschneiderin, aber Herr von der Linden, ich | |
| schneide jeden Tag gerade so viel ab, dass die Arbeiter davon Lohn und Brot | |
| haben. Ohne mich hören sie auf zu arbeiten. Da musste der Herr von der | |
| Linden einsehen, dass er auch die Lohnschneiderin brauchte. | |
| ## Unersetzlichkeit der Arbeiter | |
| Erbost über die Unersetzlichkeit seiner Arbeiter und seine eigene | |
| Unwissenheit, stellte er nun noch vielen Weiteren die Frage, wozu er sie | |
| eigentlich brauchte. Er fragte die Schimmelinspektorin, den | |
| Luftfeuchtebestimmer, die Würzmeisterin und den Laibwender, die | |
| Ameisenscheucherin und den Schirmhalter, doch wen er auch fragte, immer | |
| musste er feststellen, dass sie unersetzlich waren, wollte er den Käse | |
| erhalten. | |
| Da ging er zu guter Letzt wieder wütend seinen Berater an: „Berater, ich | |
| habe nun jede Arbeiterin und jeden Arbeiter gefragt, wozu ich sie brauche, | |
| und auf keinen von ihnen kann ich verzichten. Wenn ich nicht mal dafür | |
| sorgen kann, dass der Käse mir am Ende Gewinn bringt, wozu bin ich dann | |
| überhaupt gut?“ Darauf wusste nun auch der Berater keine Antwort, und so | |
| musste der Käsebesitzer einsehen, dass nur er allein überflüssig war, nahm | |
| seinen Hut und verließ das Dorf für immer. | |
| Wenig später erschien ein Bote eines fernen Königs mit einer Truhe voll | |
| Gold und wollte den ganzen Käse kaufen. Doch die Bürger wollten nicht mehr | |
| den ganzen Käse verkaufen. Sie nahmen nur die Hälfte des Goldes, schafften | |
| davon eine Kuh an, um einen neuen Käse herzustellen, gaben dem Boten | |
| wiederum nur die Hälfte des Käses und versorgten mit der anderen Hälfte | |
| sich selbst. Und sogar die Katzen und Mäuse bekamen ihren Teil ab und waren | |
| glücklich. Und wenn sie nicht gestorben sind, käsen sie noch heute … | |
| 12 Oct 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Ernst Jordan | |
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