Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Protest in Belarus: Revolution in den Innenhöfen
> In Belarus wird weiter demonstriert: Neben den Massen in Metropolen
> formiert sich der Widerstand gegen Lukaschenko vor allem auf
> Nebenschauplätzen.
Bild: „Hört auf, Belarus zu vergewaltigen“, fordert eine Demonstrantin Mit…
Die Abfalleimer aus Gussbeton rund um den Kinderspielplatz sind
weiß-rot-weiß angepinselt. Ein kleines Zeichen des Widerstands gegen das
Regime zwischen Hochhäusern im westlichen Stadtteil Kamennaja Gorka der
belarussischen Hauptstadt Minsk. Die fünf riesigen Wohnblocks wurden alle
vor rund zehn Jahren gebaut. In der Nachbarschaft steht ein großes
Bürohaus, in dem sich auch westliche IT-Firmen eingemietet haben.
Doch nun wird der Innenhof neu getauft: „Viertel der Solidarität“ heißt es
nun in roten Lettern auf weißem Grund an einem Transformatorhäuschen.
Jemand hat darunter ein Graffito der beiden Minsker DJs gesprüht, die es
kurz vor der Präsidentschaftswahl gewagt hatten, auf einer Veranstaltung
für den Amtsinhaber den [1][sowjetischen Rocksong „Peremen“] (Wende) von
Wiktor Tsoi aufzulegen.
Die beiden vom Staat angestellten DJs kamen wegen Hooliganismus ins
Gefängnis und wurden zu den ersten Helden des belarussischen
Volksaufstands.
Die sowjetische Rocklegende Tsoi und die Farben Weiß-Rot-Weiß bringen nun
im „Solidaritätsquartier“ die Generationen zusammen. Dazu kommen auch
Luftballons in den Farben der oppositionellen, vom Autokraten Alexander
Lukaschenko verbotenen Landesflagge, was den vielen Kindern gefällt.
## Die Angst wird weniger
Die Leute haben Tee und Glühwein in Thermoskannen in den Innenhof gebracht,
dazu Gebäck. „Es ist das erste Mal, dass wir uns zu so einem lockeren
Plausch treffen, bisher kannte ich meine Nachbarn kaum“, sagt ein junger
IT-Fachmann. Zu den Demonstrationen gehen weder er noch seine Ehefrau. Noch
beschränken sich ihr Widerstand und Veränderungsdrang auf den Innenhof.
Doch dies ist viel in Belarus, dessen 9,5 Millionen Einwohner 26 Jahre lang
den Sowjetnostalgiker Lukaschenko schweigend und von Angst zerfressen
ertragen haben. Zu den Wahlen seien sie früher einfach nicht hingegangen,
so wie zuvor ihre Eltern in der Sowjetunion, sagen die beiden. „Wenn meiner
engsten Familie Böses geschieht, erst dann gehe auch ich auf die Straße“,
sagt die Frau. „Dann hält mich nichts mehr zurück und meine ist Angst weg.�…
Die neuesten Entwicklungen in Minsk zeigen, dass dergleichen nun beginnt.
Das Regime geht inzwischen [2][gegen die friedlichen Frauenproteste vor],
auch Rentner werden nun von den Sicherheitskräften geschlagen. Alleine in
Minsk wurden bereits Hunderte von Frauen teils brutal festgenommen,
Dutzende geschlagen, Hunderte öffentlich erniedrigt.
Provoziert hat das Regime damit allerdings nun auch dezentralisierte
Kleindemonstrationen zwischen den gesichtslosen Wohnblocks, oft werden
abends von Demonstranten wichtige Straßenkreuzungen in den Randbezirken mit
Menschenketten blockiert. Manchmal waren es schon so viele, dass
Lukaschenkos Einsatzkräfte sie mangels Personal an vielen Orten der
Zweimillionenstadt gewähren lassen mussten.
## Organisation von unten
Solche lokalen Märsche sind unspektakulär für die Medien, doch sie
integrieren wie ein Stadtteilfest. Und dies in einem Land, in dem bisher
fast alles von oben organisiert wurde.
Derweil konzentriert sich das Hauptinteresse auf die Teilnehmerzahl der
sonntäglichen Großdemonstrationen. In [3][Kiew wurde der Maidan 2013/14]
erst dann zu einer Gefahr für die Machthaber, als Sonntag für Sonntag immer
mehr Bürger in die Hauptstadt fuhren, viele aus anderen Landesteilen.
In Minsk nimmt die Teilnahme an den Protestmärschen trotz massiver
Repressionen immerhin nicht ab. Der nächste Schritt jedoch wären Risse in
Lukaschenkos Machtbasis.
[4][Der ehemalige Kulturminister und Botschafter Pawel Latuschko] erscheint
nicht als politisches Schwergewicht, zumal auch er nun wie [5][die
informelle Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja] im Exil weilt. Dass
auch Latuschko gewaltig störte, zeigten jedoch die Drohungen des Regimes,
die ihn schließlich ebenso zur Ausreise bewegten.
## Noch sind es Einzelfälle
Inzwischen sind alle sieben Präsidiumsmitglieder des oppositionellen
„Koordinationsrats“ im Gefängnis oder Ausland. Gleichzeitig tauchen im
Internet immer wieder Aufnahmen von Sicherheitskräften auf, die aus Protest
ihre Uniformen verbrennen. Sogar Staatsanwälte haben gekündigt. Doch noch
sind das Einzelfälle.
Die Opposition wiederum mag vielen, vor allem ausländischen Experten zwar
[6][als führungslos erscheinen], doch ihre Forderungen sind seit Anfang der
Proteste klar und immer die gleichen: Lukaschenkos Verzicht auf eine
erneute Amtszeit, freie und faire Neuwahlen, ein Dialog der Machtstrukturen
mit Tichanowskajas „Koordinationsrat“ und die Freilassung von allen
politischen Gefangenen.
Dazu kommt, dass die Opposition ihre Machtdemonstrationen auf der Straße
auch ohne Führung ganz gut hinbekommt, und dies landesweit.
Geradezu ausgelassen ist inzwischen die Stimmung im Minsker „Viertel der
Solidarität“ in Kamennaja Gora geworden. Das rührige Organisationskomitee
hat den bekannten Minsker Rocksänger Pit Palau für ein akustisches Konzert
vor dem Transformatorhäuschen gewonnen.
## Protestkonzert vor dem Transformatorhäuschen
Palau trägt mit krächzender Stimme die weißrussischsprachige
Revolutionshymne [7][„Drei Schildkröten“ seiner alten Band N.R.M.] vor, was
so viel bedeutet wie „Unabhängige Republik der Träume“. Die rund 300
versammelten Nachbarn singen mit und das korrekt, obwohl sie wie fast alle
Belarussen im Alltag nur Russisch sprechen.
Palau tritt inzwischen bis zu dreimal täglich in Innenhöfen auf, gibt ein
Dutzend Konzerte die Woche. „Ich will den Leuten Mut machen, und zeigen,
dass sie nicht alleine sind“, sagt er.
Die „Unabhängige Republik der Träume“ erscheint plötzlich greifbar nahe,
doch der zum Revolutionsbarden mutierte Rockstar warnte noch kurz vor dem
Auftritt im Gespräch mit der taz: „Europa muss nun endlich wirklich mit
Lukaschenko und auch Putin brechen, keinerlei Verhandlungen über unsere
Köpfe hinweg!“
Kaum ist das Konzert beendet und sind die letzten Selfies gemacht, raunt
Palau dem Berichterstatter ins Ohr: „Und nun bloß weg hier! Ich fürchte
Lukaschenkos Rache, ich will nicht der Victor Jara von Belarus werden.“
[8][Der chilenische Barde starb 1973 beim Militärputsch] von General
Augusto Pinochet einen grausamen Tod.
25 Oct 2020
## LINKS
[1] https://twitter.com/nicolasdepedro/status/1295390507523244032
[2] /Frauenprotest-in-Belarus/!5715062/
[3] /Demonstranten-vom-Maidan-in-Kiew/!5050133/
[4] /Exil-Belarussinnen-in-Polen/!5709585/
[5] /Praesidentschaftswahl-in-Weissrussland/!5695506/
[6] /Erneute-Demonstrationen-in-Belarus/!5708333/
[7] https://www.youtube.com/watch?v=DlXB6YsMASE
[8] /Urteil-wegen-Mord-an-Saenger-Victor-Jara/!5313606/
## AUTOREN
Paul Flückiger
## TAGS
Schwerpunkt Krisenherd Belarus
Alexander Lukaschenko
Polizeigewalt
Ikea
Kolumne Notizen aus Belarus
Kolumne Notizen aus Belarus
Belarus
Kolumne Notizen aus Belarus
Schwerpunkt Krisenherd Belarus
Reporter ohne Grenzen
Kolumne Notizen aus Belarus
Kolumne Notizen aus Belarus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Möbel aus Zwangsarbeit in Belarus: Ikea räumt Fehler ein
Der schwedische Konzern sieht Probleme bei Lieferungen von Möbeln aus
Gefängnissen in Belarus. Kritik kommt auch von der EU-Kommission.
Politischer Aktivismus in Belarus: Hausfrau im Widerstand
Wie die Gewalterfahrung Menschen politisiert. Olga Deksnis erzählt von
stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 31.
Machtspiele in Belarus: Die Standpunkte verhärten sich
Wer protestiert fliegt raus – in Krankenhäusern, Unis und Fabriken. Olga
Deksnis erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 29.
Proteste gegen belarussische Regierung: Warnschüsse und Festnahmen
Erneut sind Zehntausende in Minsk gegen Präsident Lukaschenko auf die
Straße gegangen. Mehr als 40 Demonstrant*innen sollen verhaftet worden
sein.
Staatlicher Demozwang in Belarus: Urlaub als Ausrede
Eine Frau nimmt sich frei, um nicht für Lukaschenko demonstrieren zu
müssen. Olga Deksnis erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 27.
Proteste in Belarus: Ultimative Demo in Minsk
Lukaschenko lässt das Rücktrittsultimatum von Oppositionsführerin
Tichanowskaja verstreichen. Hunderttausende drohen mit Streik.
Festnahmen in Belarus: Bedrohliche Zustände
Die Zahl der Verhaftungen von Medienschaffenden in Belarus nimmt dramatisch
zu. Reporter ohne Grenzen fordert ihre umgehende Freilassung.
Dauerprotest in Belarus: Veränderungen sind schon bemerkbar
Im Krankenhaus reicht eine Fahne in der Tasche als stummes Bekenntnis zur
Opposition. Olga Deksnis erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 25.
Rentner in Belarus: Man möchte sie umarmen
Auch die Alten, bisher eine Stütze von Alexander Lukaschenko, gehen auf die
Straße. Janka Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 23.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.