| # taz.de -- Digitale Kunstaktion „open.coil“: Der E-Roller sendet jetzt Net… | |
| > Bei der Kunstaktion „open.coil“ werden die nervigen E-Roller, die in der | |
| > ganzen Stadt die Bürgersteige versperren, zu rollenden Galerien. | |
| Bild: An einigen Stellen in Berlin sind präparierte E-Scooter mit der Kunst vo… | |
| Erst diese Leihfahrräder, nun die E-Roller: Ein neues Business-Modell der | |
| App-Ökonomie besteht darin, die Bürgersteige von Großstädten mit | |
| Leihvehikeln vollzustellen, ohne irgendjemand um Erlaubnis zu bitten, und | |
| so lange bei leichtfertigen Investoren Geld einzusammeln, bis sich die | |
| Gründer dieser Unternehmen gesundgestoßen haben. | |
| Der Anbieter Bird hat etwa seit seiner Gründung im Jahr 2017 insgesamt 620 | |
| Millionen Euro Risikokapital gesammelt und damit allein in Deutschland | |
| schätzungsweise 25.000 Roller auf die Straße gebracht, obwohl er bisher | |
| keine schwarze Zahlen geschrieben hat. | |
| Wer bei diesem Spiel am längsten durchhält und die Konkurrenz überlebt, hat | |
| danach ein Monopol und kann die Preise nach eigenem Gutdünken festlegen – | |
| wenn überhaupt jemand überlebt: Von dem Dutzend Firmen, die seit 2018 | |
| Berlin auch deswegen mit ihren Leihfahrrädern in diversen Neontönen | |
| überfluten konnte, weil der Senat sie einfach ließ, ist fast keins mehr im | |
| Geschäft. Den [1][E-Roller-Firmen könnte ein ähnlich glanzloses Ende ihres | |
| asozialen Geschäftsmodells drohen]. | |
| Außer bei Touristen, Teenagern und Betrunkenen, denen die | |
| Straßenverkehrsordnung gleichgültig ist, scheint die Nachfrage überschaubar | |
| und der gesellschaftliche Nutzen fragwürdig. Was gern als Verkehrsmittel | |
| für die letzten Meter von der U-Bahn-Station oder der Bushaltestelle | |
| beworben wird, scheint vor allem als Verkehrshindernis an belebten Ecken | |
| und als Stolperfalle auf dem Trottoir zu funktionieren. | |
| ## Alternative Plattform für die eigene Kreativität | |
| Man kann sich über die E-Roller aufregen. Oder man kann sie als Möglichkeit | |
| betrachten, eine alternative Plattform für die eigene Kreativität zu | |
| schaffen. So wie die Künstlergruppe open.coil, die diese Gefährte zu | |
| rollenden Galerien für digitale Kunst umgebaut hat. Seit diesem Wochenende | |
| ist in Berlin eine Flotte von gehackten Rollern unterwegs, die von den | |
| Künstlern so erweitert wurden, dass sie Netzkunst senden, die man mit dem | |
| Smartphone ansehen kann. | |
| „Man kann die Roller in die Spree werfen“, sagt Anton Jehle von open.coil, | |
| „oder man kann sich überlegen, wie man sich den öffentlichen Raum, den | |
| diese Firmen beanspruchen, wieder aneignet. Wir benutzen die Infrastruktur, | |
| die diese Firmen aufgebaut haben, für unsere eigenen Zwecke.“ | |
| Dafür haben sie bei einigen Rollern die Halterung am Lenker umgebaut, mit | |
| deren Hilfe man während der Fahrt sein Handy aufladen kann. In den | |
| rechteckigen, schwarzen Plastikkistchen ist nun eine Induktionsspule | |
| versteckt, die einen winzigen Wifi-Chip betreibt, der die Daten eines | |
| digitalen Kunstwerks sendet. Wer sich mit seinem Handy in das Funknetz | |
| einloggt, das der Roller ausstrahlt, bekommt es zu sehen. | |
| Äußerlich ist das nicht zu erkennen: Die umgebauten Plastikarmaturen sehen | |
| dem Original so ähnlich, dass der Umbau selbst den sogenannten „Juicern“ | |
| nicht auffällt, die nachts frische Batterien in die Roller einsetzen – | |
| falls diese schlecht bezahlten McJobber so etwas überhaupt interessieren | |
| sollte. Und auch sonst gibt es keinen Hinweis auf die Kunst am Zweirad. | |
| ## Dank dem Hack kann man sich mit dem E-Roller anfreunden | |
| Die präparierten Roller findet man auf einer Onlinekarte auf der Website | |
| des Projekts unter [2][https://opencoil.show/]. Wer einen auftreibt, | |
| bekommt ein Kunstwerk zu sehen, das speziell für die Ausstellung entstanden | |
| ist und nur hier zu sehen ist: Aus der [3][digitalen Internetkunst], die | |
| eigentlich überall mit einem Computer betrachtet werden kann, ist so | |
| unversehens wieder ein auratisches Original geworden, für dessen | |
| Betrachtung man das heimische Sofa verlassen muss. Seit Juli arbeitet die | |
| Gruppe an dem Projekt. | |
| Dafür konnte sie bekannte Netzkünstler wie Aram Bartholl, Constant Dullart, | |
| die!Mediengruppe Bitnik oder JODI gewinnen, die sich auf die Beschränkungen | |
| des Formats eingelassen haben. Denn die kleine Festplatte im Roller kann | |
| nur zwei Megabyte speichern – genug für ein GIF von Rosa Menkman oder für | |
| die Bauanleitung ihres Senders, den open.coil ebenfalls per Roller durch | |
| die Stadt fahren lassen. Denn am liebsten wäre es ihnen, wenn andere ihre | |
| Idee übernehmen und eigene E-Roller-Ausstellungen organisieren. | |
| Als „Mobile“ im buchstäblichen Sinn des Worts haben sie so eine neue Art | |
| von Kunst im öffentlichen Raum entwickelt, die man ganz pandemiekonform an | |
| der frischen Luft und mit Mindestabstand ansehen kann. „Wegen Corona hat | |
| sich viel ins Internet verlagert, was vorher im in der Öffentlichkeit | |
| stattgefunden hat“, sagt Anton Jehle. „Bei uns ist es genau umgekehrt: Wir | |
| bringen Netzkunst, die man sich normalerweise online ansieht, in den | |
| Stadtraum.“ | |
| Seit Marcel Duchamp in seiner „Grünen Schachtel“ seine gesammelten Werke in | |
| Miniaturformat zum Mitnehmen veröffentlicht hat, haben Künstler immer | |
| wieder versucht, ihre Werke aus Galerie und Museum in die öffentliche | |
| Zirkulation zu bringen. | |
| ## Der Chef der Rollerfirma kam nicht zur Vernissage | |
| Die Mail Art machte das internationale Postsystem zum Ort für Kunst auf | |
| Postkarten und in Briefumschlägen und den Briefkasten des Empfängers zur | |
| Galerie. Multiples sollten die Kunst demokratisieren und zugänglich machen, | |
| indem man kleine, billig produzierte Objekte zum Kauf für jedermann anbot. | |
| In einem ähnlichen Sinnn hat man sich bei open.coil nun wie ein Parasit in | |
| den Wirtsorganismus der Berliner Rollerflotte eingenistet. | |
| Den Anbietern der E-Scooter ist das bisher offenbar egal, dass ihre | |
| Gefährte zu einer Produzentengalerie auf Rädern umfunktioniert worden sind: | |
| Den Chef der Rollerfirma lud man sogar zur Vorstellung des Projekts beim | |
| Zentrum für Netzkunst, dem Träger der Aktion, im Haus der Statistik ein. | |
| Gekommen ist er nicht. | |
| 26 Oct 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Abgeordnetenhaus/!5663629 | |
| [2] https://opencoil.show/ | |
| [3] /Kunst-im-Netz/!5058082 | |
| ## AUTOREN | |
| Tilman Baumgärtel | |
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