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# taz.de -- Frankfurter Buchmesse 2020: Das Netz ist kein Ersatz
> Die Pandemie hat die Frankfurter Buchmesse, Verleger, Agentinnen und das
> Publikum ins Netz gezwungen. Lieber wären sie alle an einem Ort.
Bild: Im Montez am Main stellt Richard David Precht während der Frankfurter Me…
Frankfurt taz | Traurig sei das alles anzuschauen, sagt die für die
Frühschicht verantwortliche Barchefin des Frankfurter Hofs. Das
geschmackvoll altmodische Hotel, das wie alle guten Hotels Klasse,
Zurückhaltung und Diskretion, also ein Niveau von Service garantiert, das
den Deutschen außerhalb ihrer Hotelinstitutionen oft fremd ist, war in der
Zeit vor der Pestilenz die Homebase für Agentinnen und Verleger aus aller
Welt. Der Frankfurter Hof war einer der Hotspots der [1][Frankfurter
Buchmesse].
Wäre alles wie zuvor, träfe man sich im Hof nun zum Gespräch und zum
Tanzen. Die russischen Verleger buchten einen der großen Säle, eine Band
spielte Hits von Daft Punk bis [2][Grace Jones]. Man könnte kurz
vorbeischauen, ein Glas Wein trinken, ein bisschen vom Buffet essen, sich
unterhalten und dann weiterziehen. Bis tief in die Nacht wäre die Bar
gefüllt und im Hof des Hofs, der mit seinen klassizistischen Säulen nach
draußen, zur Stadt hin respekteinflößend und einladend zugleich wirkt,
würde getrunken und geraucht. Es würde getratscht, und es würde über Bücher
geredet.
Jetzt ist die Tür der Bar zum Hof verschlossen. Drinnen sitzt ein Gruppe
von vier Leuten an einem Tisch. Man spricht leise. Es herrscht
gespenstische Ruhe im Hotel. Traurig sei das. Es fühle sich so an, als sei
gar keine Messe, sagt die Barchefin, und sie hat recht.
Für die Hotels der Stadt, in denen man während der Messetage sonst kein
freies Zimmer findet, ist die Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr
ausgefallen. Eine Messe unter Pandemiebedingungen, euphemistisch „Special
Edition“ geheißen, ist auch für die Gastronomie und für die Taxifahrer
keine Messe, sondern eine Katastrophe. Es ist nicht nur das
Buchmessegeschäft, das im Jahr der Pandemie verloren ist. Auch eine
Institution wie die Europäische Zentralbank mit ihren rund 5.000 internen
und externen Mitarbeitern lädt niemand mehr zu Besprechungen und
Konferenzen nach Frankfurt ein. Die Stadt ist auf sich selbst
zurückgeworfen.
Dabei ist die Frankfurter Buchmesse ein globales kulturelles Großereignis.
Die Messeleitung hat aus der Not der Pandemie eine Tugend zu machen
versucht und innerhalb weniger Monate ein Programm für Fachbesucher und
interessiertes Lesepublikum zusammengestellt, [3][das zum größten Teil im
Netz stattfindet]. Dafür habe es kein Vorbild gegeben, sagt Messechef
Juergen Boos der taz. „An wem hätten wir uns orientieren sollen? Die
Frankfurter Buchmesse ist die einzige Buchmesse auf der Welt, die so
ausgeprägt den Rechtehandel hat, die ein Wirtschaftsfaktor und gleichzeitig
ein Festival ist. Alle anderen Messen sind entweder das eine oder das
andere.“
## Wir verkaufen keine Schrauben
Für die Journalisten und das Publikum findet der Rechtehandel auch sonst
hinter den Kulissen statt. Jetzt ist er vollständig in den virtuellen Raum
verlagert. „Die Leute konnten sich in unterschiedlichen Formaten treffen –
wir hatten schon vor Jahren etwas für den Rechtehandel gebaut, das mussten
wir jetzt nur anpassen – bis hin zu einem virtuellen Barformat“, sagt Boos.
„Das wurde moderiert, es gab einen Barkeeper und Musik. Die Leute haben
sich in kleinen und großen Gruppen getroffen.“
4.400 Aussteller besuchten die virtuellen Meetings. In den ersten fünf
Messetagen wurden 300.000 Titel in die Rechtedatenbank geladen. „Das hat
alles wunderbar funktioniert“, sagt Boos. Aber klar geworden sei auch, dass
das kein Ersatz für Begegnungen in Frankfurt sein kann. „Wir verkaufen
keine Schrauben“, sagt Boos, „sondern Geschichten. Und um Geschichten zu
verkaufen, musst du dich tatsächlich treffen.“ Das sehen auch Verleger und
Agenten so: „Mir haben in dieser Woche Hunderte geschrieben, die gesagt
haben: Bitte, bitte sorgt dafür, dass diese Buchmesse wieder stattfindet.
Aber das liegt nicht an uns.“
Im Frühjahr hatte man noch gehofft, dass die Messe im Oktober in Frankfurt
stattfinden würde. Im Sommer wurde klar, dass die Fachbesucher aus Amerika
und Asien nicht kommen würden. Eine europäische Buchmesse sollte es nun
werden, aber auch die großen deutschen Verlage sagten ab.
Wenigstens unter der großen Kuppel der Festhalle auf dem Messegelände
sollte das Publikum sitzen dürfen, wenn auf der Bühne diskutiert wird,
dachte man sich. Aber auch diesen Plan musste die Messeleitung am Montag
fallenlassen. Frankfurt wurde zum Risikogebiet erklärt.
## Medizincheck für Journalisten
Im Lauf der Woche stieg die Zahl der registrierten Infizierten weiter an.
Die Inzidenz lag nun bei 70,9. Am Freitagmorgen hatte mir das
automatisierte Reservierungssystem für meine Pressekarte eine Mitteilung
geschickt. Ich möge ein Formular über meinen Gesundheitszustand ausfüllen.
Die Mail hatte ich nicht gesehen, weswegen ich nun zum Medical Clearing
gehen muss, bevor ich die Messehallen betreten darf.
Ein freundlicher Arzt befragt mich. Puls und Blutdruck werden gemessen, die
Temperatur in beiden Ohren. Es ist alles in Ordnung, mein Ticket wird
freigeschaltet, ich darf rein. Die Gänge, in denen man sonst Slalom laufen
muss, wenn man es eilig hat, sind leer. Nur ein paar Mitarbeiter von der
Sicherheit sind da.
Die Festhalle, die in diesem Jahr für größere Veranstaltungen genutzt
werden sollte, ist ein beeindruckender Raum, besonders im Dunkeln, nur
mäßig bestuhlt. Die meisten Stühle sind leer. Auf der Bühne sitzt Chilly
Gonzalez, erst allein, dann in Gesellschaft seines Pianistenkollegen
Malakoff Kowalski. Gonzalez hat ein Buch über Enya geschrieben, eine
Musikerin, deren Qualitäten von der Kritik eher unterschätzt werden, um es
vorsichtig auszudrücken.
Für [4][Chilly Gonzalez] ist seine Liebe zu Enyas Musik eine Chiffre. Cool
wollte er früher sein, wie die halbstarken Indierocker um ihn herum. Jahre
hat es ihn gekostet, zu seiner Vorliebe für Soft Rock und Jazz zu stehen,
den „inneren BeeGee rauszulassen“. Vor Jahren sei er aufgefordert worden,
ein Memoir zu schreiben, aber das konnte er damals nicht, sagt er. Jetzt
aber, in der Auseinandersetzung mit Enya, kamen die Gedanken und die Sätze
ganz von allein.
Kowalski, der eine begnadete Lesestimme hat, liest am Ende der Show aus
Gonzalez’ Enya-Buch vor, dazu begleitet ihn Gonzalez, wie immer im
Hausmantel und in Pantoffeln, auf dem Piano. Es ist ein schöner Moment und
großes Entertainment. Die beiden Männer sind Profis, sie lassen sich nicht
anmerken, dass sie vor einer leeren Halle sitzen.
Am Morgen, beim Frühstück, hatte ich ein Foto von Frankfurts
Oberbürgermeister Peter Feldmann in der Zeitung gesehen, der im Römer
Soldaten der Bundeswehr empfing. Das Gesundheitsamt bei der
Coronabekämpfung unterstützen sollen sie. Ab 23 Uhr ist Sperrstunde in der
Stadt, und es herrscht nun auch ein generelles Alkoholverkaufsverbot bis
morgens um sechs. Auf der Zeil galt bereits Maskenpflicht, ab Montag muss
im gesamten Innenstadtbereich einschließlich des Sachsenhäuser Mainufers
eine Mund-Nasen-Bedeckung getragen werden.
Das alles hält die Frankfurter aber nicht ab, zu den knapp 200 Lesungen und
Diskussionen des „Bookfests City“ der Messe und der vom Kulturamt Frankfurt
organisierten Reihe „Open Books“ zu kommen. Wenn es sein muss, dann sitzt
man eben mit Abstand und mit Maske in der St.-Katharinen-Kirche, im
Ratskeller oder im Montez am Main. „Angst ist bei Gefahren das
Gefährlichste.“ Das schrieb Heinrich Heine in seinem Bericht über die
Cholera in Paris im Jahr 1832.
18 Oct 2020
## LINKS
[1] /Frankfurter-Buchmesse-2020/!5718548
[2] /Zum-70-Geburtstag-von-Grace-Jones/!5507229
[3] /Frankfurter-Buchmesse-2020/!5717711
[4] /Kanadischer-Pianist-Chilly-Gonzales/!5532816
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
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