# taz.de -- Jurist über Polizeieinsatz bei S-21-Demo: „Plötzlich kam ein Wa… | |
> Am „Schwarzen Donnerstag“ vor 10 Jahren ging die Polizei hart gegen | |
> Stuttgart-21-Gegner vor. Dieter Reicherter geriet zufällig in den | |
> Gewaltausbruch. | |
Bild: Brutales Vorgehen mit Wasserwerfern: Szene vom 30. September 2010 in Stut… | |
taz: Herr Reicherter, vor zehn Jahren fuhren im Stuttgarter Schlosspark die | |
Wasserwerfer auf, um das Gelände von Demonstranten zu räumen, die das | |
Bahnhofs-Projekt [1][Stuttgart 21] verhindern wollten. Wie haben Sie | |
[2][diesen Tag] erlebt? | |
Dieter Reicherter: Ich war vier Wochen vorher als Vorsitzender Richter am | |
Landgericht in den Ruhestand gegangen. An dem Nachmittag war ich zufällig | |
sowieso in der Innenstadt. Ich wollte nicht demonstrieren, ich war davor | |
noch nie bei einer Demo oder einem Polizeieinsatz, ich wollte mir das nur | |
ansehen. Schon auf dem Weg zum Schlossgarten kam mir ein Mädchen mit total | |
geröteten Augen entgegen, sie erzählte, dass sie von der Polizei | |
angegriffen wurde. | |
Und als sie im Schlossgarten ankamen? | |
Als ich dann im Park war, sah ich erst mal friedliche Demonstranten auf der | |
Wiese. Plötzlich kam ein Wasserwerfer. Die Polizei verlangte über | |
Lautsprecher, den Weg freizugeben: Aber wir waren ja auf der Wiese nicht | |
auf dem asphaltierten Weg. Plötzlich kam dann die Dusche. Vor dem scharfen | |
Strahl konnte ich mich hinter einem Baum in Sicherheit bringen. Später habe | |
ich erfahren, ganz in meiner Nähe wurde eine Frau schwer am Auge getroffen. | |
Ich hatte Glück. | |
Hat sich ihr Bild vom Staat damals geändert? | |
Ja, total. Ich habe als Richter immer mit der Polizei zusammen gearbeitet | |
und dachte, dass man sich darauf verlassen kann, dass die einigermaßen | |
Recht und Ordnung einhalten. Plötzlich sehe ich, wie der Staat gegen seine | |
Bürger vorgeht. Alte Menschen und Schüler, die vor lauter Pfefferspray, das | |
ihnen direkt in die Augen gesprayt wurde, nichts mehr sehen konnten. | |
Heute wissen wir, dass der Einsatz von Pfefferspray bei Kindern und der | |
Wasserwerfer auf Kopfhöhe den polizeilichen Vorschriften widersprochen hat. | |
Diese Bilder waren es, die mich dazu motiviert haben, mich am Widerstand | |
gegen Stuttgart 21 zu beteiligen und mit meinen Kenntnissen als Jurist die | |
Hintergründe zu diesem Einsatz auszuleuchten. | |
Es gab inzwischen zwei parlamentarische Untersuchungsausschüsse und ein | |
Gerichtsverfahren gegen das Land. Die von der Polizei Schwerverletzen haben | |
sich mit dem Land auf eine Schadensersatzzahlung geeinigt. Aber unklar ist | |
ja eigentlich bis heute, warum es zu diesem brutalen Einsatz kam. | |
Ich habe ja seit damals viele Akten eingesehen. Manche offiziell und andere | |
wurden mir inoffiziell aus den Behörden zugespielt. Heute denke ich, es hat | |
wahrscheinlich eine Art vorauseilender Gehorsam bei der Polizei geherrscht. | |
Der damalige Ministerpräsident Stefan Mappus hat ja vorher deutlich | |
gemacht, was er von dem Einsatz erwartet: die Räumung. | |
Bis dahin war ja die Taktik der Polizei eine ganz andere, da waren | |
Antikonflikt-Teams im Einsatz. Heute ist mir klar, dass der Einsatz im | |
Zusammenhang mit der Regierungserklärung von Mappus stand, die ja wenige | |
Tage später angesetzt war. Es zieht sich durch die Unterlagen, die ich | |
kenne, dass er den Schlosspark bis dahin geräumt haben wollte. Das ging mit | |
normalen Polizeimitteln nicht. Was ich bis heute nicht verstehe, wie man so | |
einen Einsatz am helllichten Tag machen kann, während in der Stadt eine | |
angemeldete Schüler-Demo stattfindet. | |
Sie haben keine Erklärung dafür? | |
Ich kann mir das nur so erklären, dass man bei den Demonstranten | |
Gewalttaten provozieren wollte, die zum Glück ausgeblieben sind. | |
Nach zehn Jahren hat sich ja auch kürzlich der damals verantwortliche | |
Polizeipräsident erstmals öffentlich zu diesen Vorwürfen geäußert. Er sagt, | |
für den sachgemäßen Einsatz der Wasserwerfer seien deren Besatzungen | |
verantwortlich. | |
Also der Polizeipräsident Stumpf war immerhin der verantwortliche | |
Einsatzleiter. Wie sich ja erst durch den so genannten Wasserwerfer-Prozess | |
herausgestellt hat, war er sogar selbst vor Ort. Er hat damals also | |
gesehen, wie die Beamten vorgegangen sind. Und er hätte das stoppen können | |
und müssen. | |
Übrigens hat ihn der damalige Stadtdekan angerufen, der auch auf der | |
Demonstration war und Kinder vor den Wasserwerfern gesehen hat. Die Antwort | |
vom Polizeipräsidenten war: Dann solle er doch die Kinder wegschicken, | |
damit ihnen nichts passiert. | |
In der Folge dieser Ereignisse hat sich viel geändert in Baden-Württemberg. | |
Nicht zuletzt die politischen Mehrheitsverhältnisse. Die CDU ist nur noch | |
Juniorpartner der Grünen. | |
Ja, aber leider hat sich auch die Einstellung vieler Menschen zu Polizei | |
und Politik nicht nur in Stuttgart durch den Einsatz damals verschlechtert. | |
Das spürt man gerade jetzt an diesem Jahrestag wieder. Es gab auch noch | |
später unverhältnismäßig hartes Vorgehen der Polizei gegen unsere Bewegung. | |
Aber es gab immerhin auch die [3][Entschuldigung von Kretschmann] gegenüber | |
den Opfern des Wasserwerfer-Einsatzes. Das muss man anerkennen. Eine Geste, | |
auf die man von den damals Verantwortlichen in Politik und Polizeiführung, | |
insbesondere von Stefan Mappus, bis heute wartet. | |
Aber der Bahnhof, den die Demonstranten damals verhindern wollten, wird | |
trotzdem gebaut. | |
Ja, leider. Aber die Kosten dafür steigen, wie vorausgesagt ins | |
astronomische und viele der Planungsfehler, die wir schon vor zehn Jahren | |
erkannt haben, versucht man heute mit immer neuen Planungen zu heilen. | |
Jetzt hat ja gerade der auch der Bundesrechnungshof festgestellt, dass das | |
ganze Projekt nicht wirtschaftlich ist. Wir vom Aktionsbündnis klagen im | |
Moment gegen den Brandschutz der Tunnel. Das jetzige Brandschutzkonzept | |
wird nicht funktionieren und dann könnte der ganze Bahnhof, sollte er je | |
fertiggestellt sein, nicht eröffnet werden – wie der Berliner Flughafen. | |
Sie demonstrieren weiterhin unverdrossen jeden Montag? | |
Ja, weil wir immer noch der Meinung sind, dass das ganze Projekt abgeblasen | |
werden müsste. Wir haben ein alternatives Konzept für einen oberirdischen | |
Bahnhof, bei dem alle Bauwerke genutzt werden können, die schon fertig | |
gebaut sind. Aber wir haben inzwischen auch ganz andere politische Themen. | |
Wir nennen die Montags-Demos mit einem Augenzwinkern unsere | |
„Freiluft-Volkshochschule“. | |
30 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Benno Stieber | |
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