# taz.de -- Neues Album von Angel Olsen: Trennung hat auch was Gutes | |
> Ätherisch, mit brüchiger Stimme werden große Popmomente inszeniert, | |
> Intimität wird behauptet: Angel Olsens neues Album „Whole New Mess“. | |
Bild: Angel Olsen und ihre Silvertone-Gitarre | |
Das Ying und Yang einer Trennung: So ließe sich das Doppelpack „All | |
Mirrors“ (2019) und Angel Olsens neues Album „Whole New Mess“ wohl am | |
besten beschreiben. Man muss die beiden Alben der 33-Jährigen schon deshalb | |
als Einheit denken, weil neun der elf Songs auf beiden Veröffentlichungen | |
zu finden sind – mit ähnlichem Titeln, aber höchst unterschiedlich | |
interpretiert. | |
Die US-Künstlerin – ursprünglich im eher schwermütigen Folk beheimatet, | |
mittlerweile aber [1][großen Popmomenten zugeneigt] – lebt nach prägenden | |
Jahren in Chicago, wo sie im Umfeld von Will Oldham alias Bonnie „Prince“ | |
Billy unterwegs war, seit 2014 in der Subkultur-Enklave Asheville, North | |
Carolina. Rief „All Mirrors“ noch poppigere Opulenz auf, präsentiert ihr | |
neues Album „Whole New Mess“ die Stücke in skelettierter Form: | |
minimalistisch instrumentiert, ätherisch, mit brüchiger Stimme, die Olsen | |
klingen lässt [2][wie ein waidwundes Reh]. Der Wut, die Konflikte, die in | |
„All Mirrors“ stecken, scheinen verpufft. | |
Doch bei der Reihenfolge der Entstehung ist das neue Album das ältere, | |
umgekehrt wurde lediglich die Chronologie des Erscheinens. Aufgenommen | |
wurde „Whole New Mess“ 2018, kurz nach dem traumatischen Ende einer | |
langjährigen Beziehung, in einer zum Studio umgebauten Kirche in Anacortes | |
im Bundesstaat Washington an der Westküste. | |
## Nicht mehr nur Trauer | |
Zurück in Asheville im Süden, entstanden daraus die Interpretationen, die | |
auf „All Mirrors“ zu hören sind: Und da dominiert eben nicht mehr nur die | |
Trauer. Es gibt klanggewordene Erinnerungen an die Momente, an denen sich | |
alles richtig anfühlte; Wut darüber, sich in der Beziehung selbst verloren | |
zu haben, und die Zuversicht, dass diese Trennung auch ihr Gutes hat. | |
„To forget you is to lie there is still so much left to recover“, singt | |
Olsen im „Lark Song“ auf „Whole New Mess“ – introspektiv, latent fleh… | |
zugleich aber im nüchternen Bewusstsein, dass es keinen Sinn ergibt, sich | |
weiter anbrüllen zu lassen: „The way you scream like something else is a | |
matter“, heißt es später. | |
Auf „All Mirrors“ heißt derselbe Songs kurz und knapp „Lark“ und ruft … | |
ganz anderes Gefühls- und Klangkaleidoskop auf: nach einem sanften Einstieg | |
entfaltet die sixties-inspirierte Ballade Walker-Brothers-Momente, daraus | |
wird dann ein Phil-Spector-mäßiger Wall of Sound. Und zwischendurch blitzen | |
immer wieder dräuende Sounds auf, die einem Horrorfilm entstammen könnten. | |
## Breites Klangpanorama | |
Ein solch breites Panorama ist ziemlich repräsentativ für dieses Album und | |
für Olsens Arbeitsweise der letzten Jahre. Sie sei es leid, immer nur | |
traurige Songs zu schreiben, erklärte sie 2016 in einem Interview mit dem | |
britischen Guardian – schon allein, weil sich zu viele Weirdos von ihrer | |
Musik verstanden fühlten, die dann seltsame Dinge auf sie projizierten. | |
„Wie soll ich eine Verbindung zu Menschen aufbauen, die so verloren sind? | |
Ich bin selbst auf der Suche. Und will nicht für eine Antwort | |
verantwortlich sein.“ | |
Daran, [3][große Popmomente] aufzurufen, ist Olsen mittlerweile wirklich | |
gut – und auch darin, daran hängende Klischees gleich wieder zu zerlegen, | |
mit kleinen und manchmal größeren Widerhaken. Subtile Störer gibt es auch | |
auf dem reduzierteren „Whole New Mess“: Olsens Stimme wirkt verhallt, die | |
karge Instrumentierung schepperig. In der Summe wirkt das Album jedoch | |
monochrom und gleichförmig, daran ändern solche bewusst gesetzte | |
Irritationen wenig. | |
Olsen ist über die Jahre zu einer eindrucksvollen Perfomerin geworden, die | |
es offenbar für sich nutzen kann, komplett auf sich zurückgeworfen zu sein. | |
So, wie sie bei Konzerten den Raum füllen und ein plapperndes Publikum | |
runterfahren kann, hört man die sprichwörtliche Stecknadel fallen. Insofern | |
schien es durchaus vielversprechend, sie auf „Whole New Mess“ mal wieder | |
reduzierter zu erleben. | |
Doch das Album erweist sich eben nicht als Songwriting in Rohform, | |
zumindest nicht auf den zweiten Blick. Denn sie präsentiert keine offenen | |
Skizzen, die ihre Form noch suchen, sondern sorgfältig durchproduzierte, in | |
sich recht hermetische Songs. Die wirken zwar atmosphärisch. Doch man fragt | |
sich, warum Olsen sich nicht für einen Wenn-schon-denn-schon-Ansatz | |
entschieden hat – und die Songs völlig nackig gemacht hat. So wirkt das | |
Album in seiner behaupteten Intimität kalkuliert. | |
Über den Entstehungsprozess der Songs, über den man bei einem | |
Nacheinanderhören der Alben einiges erfährt, würde man gerne noch mehr | |
wissen. [4][Einblicke, wie Musik im Laufe der Zeit ihr Gesicht verändert], | |
ist nämlich das Spannendste an „Whole New Mess“. | |
21 Sep 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Angel-Olsens-Konzert-in-Berlin/!5656465/ | |
[2] https://blogs.taz.de/popblog/2020/02/11/live-angel-olsen/ | |
[3] /Neues-Album-von-Emma-Tricca/!5697293/ | |
[4] /Kevin-Coyne-zum-75-Geburtstag/!5567886/ | |
## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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