| # taz.de -- Besetzte Hochschule in Budapest: Wache stehen für die Freiheit | |
| > Seit das Orbán-Regime die Uni für Theater- und Filmkunst konservativ | |
| > umgebaut hat, wird sie besetzt. Die StudentInnen fordern mehr | |
| > Mitbestimmung. | |
| Bild: StudentInnen halten die Budapester Uni für Film- und Theaterkunst besetzt | |
| Budapest taz | Es ist eine kraftvolle, manchmal auch einschüchternde Geste. | |
| StudentInnen und AbsolventInnen der Budapester Universität für Theater- und | |
| Filmkunst (oder kurz SZFE) stehen auf dem Vordach Wache und besetzen das | |
| Gebäude. Sie müssen dafür aus dem Fenster steigen und dann vor dem riesigen | |
| bemalten Transparent Platz nehmen. „Wir stehen fest an der Seite der | |
| Unabhängigkeit unserer Universität“ ist darauf zu lesen, darunter die | |
| Aufforderung in der Sprache der digitalen Jugend: „#freeSZFE“. | |
| In 30-Minuten-Schichten sind die WächterInnen eingeteilt. Sie stehen stumm | |
| in 4 Metern Höhe auf dem Dach über der Straße, und alle tragen Masken. | |
| Natürlich dient das Kleidungsstück dem Schutz vor dem Virus, trotzdem | |
| schaut es aus, als wären sie vermummt in ihrem Kampf gegen die willkürliche | |
| Entmachtung der bisherigen Universitätsleitung. | |
| Es ist schwer vorauszusagen, wie der Streit um die SZFE gelöst werden kann. | |
| [1][Die ungarische Regierung] hat im Frühjahr den Lockdown genutzt und ohne | |
| jegliche Absprache unangekündigt die Umstrukturierung einiger Universitäten | |
| auf den Weg gebracht. Der Senat der SZFE hat aus den Medien erfahren, dass | |
| auch seine Universität binnen drei Monaten aus der staatlichen Verwaltung | |
| in den Besitz einer neu gegründeten Stiftung gelangen soll. | |
| In Zukunft sind dann die DozentInnen keine staatlichen Angestellten mehr, | |
| was höhere Gehälter, aber auch eine leichtere Kündigung ermöglicht. Die | |
| drei Gebäude der Uni werden zum Stiftungseigentum erklärt, darunter ein | |
| innerstädtischer Palast und ein Prachtkino im Herzen von Budapest. | |
| Finanziert werden soll die Universität durch einen Langzeitvertrag mit dem | |
| Staat. | |
| ## Sie brauchen die Kräfte für den Kampf | |
| Hinter den WächterInnen ragt das Haus Nummer 2 in der Vas utca empor | |
| (wörtlich übersetzt ist es die Eisenstraße). Es ist wie geschaffen für | |
| ihren Protest. Es gibt Proberäume, wo die StudentInnen in Gruppen ihre | |
| Aktionen erarbeiten und ihre Plakate oder gelbe Masken selbst herstellen | |
| können. Es gibt ein Buffet, im Nebenraum lagern sie die Zuwendungen ihrer | |
| UnterstützerInnen. | |
| Lebensmittel, Decken, Matratzen und Hygienesachen werden gespendet, | |
| sympathisierende Restaurants bringen manchmal warmes Essen gleich für 80 | |
| Personen vorbei. Im Wohnheim der Universität können viele schlafen, andere | |
| haben ihre Zelte im Flur aufgestellt. | |
| Sie haben sich verständigt aufzupassen, sodass sich alle ausruhen können. | |
| Sie brauchen ja ihre Kräfte für einen Kampf, der noch sehr lange dauern | |
| kann, erzählt Mihány Csernai, der Vorsitzende der Studentenvereinigung der | |
| Universität, in einem Radiointerview. Verliert er seinen Optimismus, so | |
| geht er ins Zimmer mit den Sachspenden, um seelisch aufzutanken. Dort fühlt | |
| er die breite Unterstützung im Land. | |
| Das heutige Unigebäude wurde während des Zweiten Weltkriegs im | |
| faschistischen Ungarn als Zentrale der Christlichen Jugend im nüchternen | |
| Stil erbaut, später wurde das sechsstöckige Haus von den KommunistInnen | |
| enteignet. Im Zuge der Umbauten wurde die Kirche im Erdgeschoss in ein | |
| Theater mit 261 Sitzen verwandelt, wo fortan die Aufführungen der | |
| Schauspielhochschule stattfanden. Hier halten die BesetzerInnen ihre Foren | |
| ab. | |
| Zweimal am Tag diskutieren sie über ihre Ziele, Forderungen und Aktionen. | |
| Nach dem Frühstück wird zuerst beraten, dann abgestimmt. Sie passen auf, | |
| dass alle gehört werden, die Foren werden im Netz für die nicht Anwesenden | |
| übertragen. | |
| Die SZFE ist eine beschauliche Universität, um die 300 StudentInnen | |
| erlernen hier verschiedene kreative Berufe. Etwa zwei Drittel von ihnen | |
| nehmen aktiv an den Protesten teil: angehende SchauspielerInnen und | |
| RegisseurInnen, TheaterwissenschaftlerInnen und PuppenspielerInnen, | |
| DramaturgInnen und FernsehreporterInnen. Sie passen auf, dass jederzeit | |
| zumindest 70 von ihnen im besetzten Haus sind. Sie haben sich juristisch | |
| für den Fall beraten lassen, dass die Polizei oder die Gesundheitsbehörde – | |
| unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung – das Gebäude räumen will. | |
| ## Vorbereitet für Angriffe von Fußballultras | |
| Sie halten nicht nur auf dem Vordach Wache, auch an anderen wichtigen | |
| Stellen wird aufgepasst, dass niemand reinkommt, der nicht an der 155 Jahre | |
| alten Uni studiert oder lehrt. Sie haben auch ein Warnsystem erarbeitet: | |
| Sollte ein Angriff von Fußballultras kommen, dann eilen UnterstützerInnen | |
| für eine Menschenkette her. Dass sie mal gebraucht werden, ist nicht ganz | |
| auszuschließen. Die Partei Fidesz hat die größeren Sportklubs fest in der | |
| Hand, und die Ungarn erinnern sich gut daran, als Hooligans im Jahr 2016 | |
| mit Androhung von Gewalt eine Volksbefragung vor der Wahlkommission | |
| verhinderten. | |
| „Auf dem Papier könnte diese Unireform sogar eine Garantie für mehr | |
| Unabhängigkeit sein“, sagt der 32-jährige Áron Molnár. Der Schauspieler | |
| gründete vor ein paar Jahren ein Musikprojekt namens noÁr und rappt seitdem | |
| für mehr Gerechtigkeit, Demokratie und Toleranz im Land. So viel | |
| Zivilcourage ist in Ungarn rar geworden, die meisten haben gelernt, sich | |
| aus dem öffentlichen Diskurs rauszuhalten. Kritik an der Politik Viktor | |
| Orbáns bringt nur Gefahren, aber zu Änderungen führt sie nie, das ist das | |
| Gefühl der älteren Generationen. | |
| Molnár ist das aber egal, er sagt, sollte er eine Rolle wegen seiner | |
| Meinung verlieren, dann möchte er sie auch nicht haben. Kein Wunder, dass | |
| die Studierendenvereinigung sich bei ihm meldete, als sich im Juni die | |
| bevorstehende Entmachtung der SZFE abzeichnete. Sie wollten mit ihm ein | |
| Lied schreiben, das ihre Situation erklärt. | |
| Die StudentInnen kritisieren in erster Linie, dass der Umbau von oben | |
| erzwungen wurde, erklärt Molnár. Die Beteiligten wurden umgangen, ein | |
| Gesetz ohne jegliche Debatte verabschiedet. Und dann, als sich alle bereits | |
| in die Ferien verabschiedet hatten, wurde das Kuratorium der neuen Stiftung | |
| bekanntgegeben. | |
| ## Die Uni soll konservative Kunst fördern | |
| Die fünf Mitglieder dieses Kuratoriums stehen der Regierung nahe, ein | |
| Mitspracherecht bei der Ernennung wurde niemandem eingeräumt. Die Stiftung | |
| wird [2][von Attila Vidnyánszky angeführt, er ist gleichzeitig Intendant | |
| des Nationaltheaters]. Er ist stolz, der liberalen Elite die Stirn zu | |
| bieten, und verspricht eine ideologische Kehrtwende: Die Universität soll | |
| konservative, christliche Kunst fördern. | |
| Dass die Umstrukturierung einer Entmachtung gleichkommt, zeigte sich | |
| schnell: Das Kuratorium hat als eine seiner ersten Amtshandlungen dem | |
| Rektor und dem Senat alle wichtigen Befugnisse genommen, zum Beispiel über | |
| Budget und Lehrkräfte zu entscheiden. Stattdessen trifft Vidnyánszky alle | |
| Entscheidungen allein. | |
| Vor drei Wochen sahen dann die StudentInnen keinen anderen Ausweg, als die | |
| Besetzung ihrer Universität zu verkünden. Sie wollen nur dann verhandeln, | |
| wenn zuvor alle Reformen zurückgenommen werden, und das Kuratorium bis zum | |
| letzten Mitglied abdankt. Die DozentInnen unterstützen ihren Kampf, indem | |
| viele von ihnen gekündigt haben oder ihre Ämter ruhen lassen. Vidnyánszky | |
| kann die Fortsetzung des Unterrichts unmöglich garantieren, solange er | |
| keine Angestellten hat. | |
| Das akademische Jahr fängt aber bald an. Die StudentInnen planen, eine | |
| „geheime“ Uni zu starten. Sie wollen ihren Unterricht im besetzten Haus | |
| selbst organisieren. Ihre ehemaligen Lehrer stehen bereit, sie würden auch | |
| ohne Bezahlung kommen. | |
| ## Ein Dozent trifft die StudentInnen im Café | |
| Ein Fernsehfachmann, ein langjähriger Gastdozent, lacht: Das Unihonorar sei | |
| auch vor der Besetzung schon so niedrig gewesen, dass es nicht mal für das | |
| Parken reichte. Aber er werde weiter zum Unterricht kommen, auch wenn die | |
| neue Führung der Universität ihre Position am Ende doch halten kann. Er | |
| kann seine StudentInnen auch im Café treffen. Man könne doch nicht | |
| zulassen, dass diese große Zahl junger Menschen von wirren ideologischen | |
| Nationalisten unterrichtet werde, sagt er. Seinen Namen nennt er nicht, | |
| denn sein Arbeitgeber will die Regierung nicht provozieren. | |
| Auch die als Gäste zum Protest geladenen früheren AbsolventInnen müssen | |
| lange nachdenken, ob sie die öffentliche Stellungnahme wagen. Die junge | |
| Generation aber ist wild entschlossen. Sie sind die VerliererInnen der | |
| vergangenen Jahre. Sie haben mit angesehen, wie Orbán einen Kulturkampf | |
| angezettelt hat, wie politische Treue und die Fähigkeit, sich stumm zu | |
| stellen, wichtiger wurden als Talent oder fachliche Eignung. | |
| Denn: Wo der Staat das Geld bereitstellt, wird eine Gegenleistung erwartet. | |
| Wer aus der Reihe tanzt, kann jede Förderung vergessen. Wie der vielfach | |
| ausgezeichnete Theatermacher Béla Pintér sagte: „Die Vorgängerregierung gab | |
| uns Geld, die Regierung Orbán gibt uns Stoff für unsere Dramaturgen.“ | |
| Diejenigen, die noch am Anfang ihrer Karriere stehen, sehen das düsterer. | |
| Die Zahl der unabhängigen KünstlerInnen und Werkstätten schrumpft und | |
| gleichzeitig versperrt die Pandemie den letzten Ausweg: in andere | |
| EU-Staaten zu gehen, um dort mit ihren Talenten voranzukommen. | |
| [3][Die Pandemie] und die Rezession nehmen den StudentInnen die Hoffnung, | |
| einmal eine Arbeit zu finden, ohne sich verstellen zu müssen. In der | |
| vierten Woche ihres Protestes stehen sie am Scheideweg. Sie müssen aber | |
| auch erkennen, dass die Regierung keine Einigung mit ihnen sucht. Orbán | |
| hofft, dass sie müde werden, dass sie sich zerstreiten. Die Film- und | |
| TheaterstudentInnen leben die Rolle ihres Lebens. Sollten sie siegen, wäre | |
| ihr Protest die Blaupause für das ganze Land. | |
| 24 Sep 2020 | |
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