# taz.de -- Begegnung im Süden Frankreichs: Unter Gelbwesten | |
> Abendessen mit einer der letzten aktiven Gelbwesten-Gruppe. Sie ist | |
> durchmischter als manch vermeintlich progressive Crowd. Eine kuriose | |
> Mischung. | |
Bild: Für die Menschen im Camp sind die Forderungen der Gelbwesten immer noch … | |
Die Puppe trägt eine gelbe Weste, eine Jakobinermütze und über dem Herzen | |
eine Aufschrift: „Macron hat mich getötet“. Sie wacht leblos vor einer | |
Baracke aus Holz und Planen, dekoriert mit Lichterketten und gelben | |
Warnwesten sowie einer langen Liste sozialer Forderungen der | |
[1][Gelbwesten] von Pont-de-l'Étoile, einem Dörfchen im Süden Frankreichs. | |
Sie sind die letzten Versprengten, nach eigener Aussage das letzte aktive | |
Gelbwesten-Camp der Region. Eine Gruppe sitzt draußen um den Tisch bei Wein | |
und Thunfischsalat. Sie haben uns erst Werkzeug geliehen und dann | |
eingeladen. | |
Es sind mehr Freunde als MitstreiterInnen. Viele Camps seien gewaltsam von | |
der Polizei geräumt worden, sagt der, der neben mir sitzt. „Auf Papier | |
haben wir nichts bewirkt. Aber wir haben einen Gesprächskorridor eröffnet.“ | |
Eine Gesellschaft, die jetzt rede. In Deutschland sind viele Linke nie warm | |
geworden mit der französischen Gelbwestenbewegung. Rassistische und | |
homophobe Äußerungen wurden angeprangert, die Gewalt bei Demos, und vieles | |
lief unausgesprochen auf eines hinaus: dass das hier keine Intellektuellen | |
sind, sondern Milieus, die man abstrakt gern idealisiert, aber in ihrer | |
Andersartigkeit dann doch nicht so gern aus der Nähe sieht. | |
Dabei ist es eine verblüffend [2][diverse Mischung] im Camp. Da sind die | |
Gastgeber, ein altes Paar, das im Wohnwagen lebt, weil sie anderes nicht | |
bezahlen können. Da ist eine unausgesprochene Anführerin, Typ linksliberale | |
Studentin, die klagt über die hohen Mieten und die arbeitslose Jugend. Am | |
anderen Ende des Tisches sitzt einer, bis zum Hals tätowiert, der gerade im | |
Knast war und in manisch schnellen Monologen die These vertritt, Macron und | |
die ganze Regierung sei auf Koks. Da ist der Vater mit seiner Tochter, der | |
seinen Job verloren hat, und der stille Arabischstämmige, der als Erster | |
wieder wegmuss, weil er 13 Stunden am Tag arbeitet, unter anderem als | |
Türsteher in Clubs. | |
## Vereinfachte Weltbilder | |
Die Erfahrung von Not und Ausbeutung ist es, die sie eint. Sie sind | |
durchmischter als manch vermeintlich progressive Crowds. Und gleichzeitig | |
ist ihr Antikapitalismus eine kuriose Mischung. Der, der im Knast war, | |
sagt: „Ich habe den Verdacht, dass hinter Covid was ganz anderes steckt, um | |
uns zu zerschlagen“. Große Zustimmung. | |
Der arbeitslose Vater zeigt ein Rap-Video, das den Kapitalismus kritisiert, | |
in dem es aber auch um „eine jahrhundertelange Verschwörung“ von Klerus und | |
Banken geht. In diesen Momenten sind sie von Pegida nicht weit entfernt. | |
Aber vereinfachte Weltbilder machen ihren Kampf um Gerechtigkeit nicht | |
wertloser. Und wer Menschen hören will, kann hier viel lernen über | |
Lebenswirklichkeiten, Not, Solidarität. Auf die Frage, ob sie keine Angst | |
hätten vor Repression, sagt der arbeitslose Vater: „Die haben mehr Angst | |
vor uns als wir vor ihnen.“ | |
15 Sep 2020 | |
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[1] /Buergergremium-in-Frankreich/!5691065&s=gelbwesten/ | |
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## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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