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# taz.de -- Vor Kommunalwahlen in Russland: Im Geist von Nawalny
> Swetlana Kawersina will in den Stadtrat der russischen Metropole
> Nowosibirsk. Sie kandidiert für die Freunde des Anschlagsopfers Alexei
> Nawalny.
Bild: Der Fluss Ob in Nowosibirsk. Im Hintergrund wächst die Stadt
Novosibirsk taz | Das Meer. Swetlana Kawersina schaut aufs Wasser, der Wind
peitscht ihr ins Gesicht. Unten am Ufer geht ein Vater mit seinem Sohn
spazieren, das Kind klettert auf die Steinbrocken, in der Ferne angeln zwei
Männer. Kawersina ist oft hier, wie so viele der Einwohner*innen des
Nowosibirsker Stadtteils Rechte Tschomy, den hier alle nur Schleuse nennen,
wegen der Schleuse gleich um die Ecke. Kawersina läuft den kleinen
Trampelpfad entlang, vorbei an ihrer geliebten Kirche mit dem blauen
Zwiebelturm zu den neunstöckigen Plattenbauten rundherum. Im Hof steht ein
klappriges Tischchen, das den Windstößen kaum standhält. „Unser Meer soll
eingezäunt werden. Wir sind dagegen. Wollen Sie unterschreiben?“, fragt
Kawersina die Passanten. Eine Frau winkt ab, ein Mann bleibt stehen. Eine
andere Frau sagt fordernd: „Geben Sie mal her, meine Unterschrift ist Ihnen
sicher.“
Nowosibirsk hat kein Meer. Nowosibirsk hat den Fluss Ob – und ein
Wasserkraftwerk aus den 1950er Jahren, das den „Schleusianern“ ihr
Naturparadies beschert. Einen kleinen Flecken nur, mit sandigem Boden, den
Bäumen, die sie selbst gesetzt haben. Es gibt sonst nicht viel für die
16.000 Bewohner des Viertels. Die Wege sind oft aus bröckelndem Beton
gebaut, die Busse ins Zentrum fahren nur unregelmäßig und mit dem Auto
dauert es schon einmal mehr als eine Stunde in die Stadt. Swetlana
Kawersina ist vor sieben Jahren hierhergezogen, seit 30 Jahren aber lebt
die 50-Jährige in Nowosibirsk, der drittgrößten Metropole Russlands. Sie
kennt jede Ecke in ihrem Viertel, sie hat Subbotniks organisiert, damit der
Müll am „Meer“ verschwindet, hat den Fühlgarten an der Kirche mitgestalte…
damit die Kinder Beeren sammeln können. Sie hat ihre Welt – mitsamt
Bekannten und Kolleg*innen ihrer Organisation „An der Schleuse“ – ein wen…
verändert. „Wir wollen in einer lebenswerten Stadt leben“, sagt sie.
Nowosibirsk verdankt seine Existenz einer Eisenbahnbrücke über den Ob, die
die Stadt zu einem Knotenpunkt der Transsibirischen Eisenbahn machte. Im
Gegensatz zu anderen sibirischen Städten lebt die Metropole nicht von Öl
und Gas. Sie lebt vom Handel – und vom Baugrund. Dutzende Baulöwen haben
die Stadt untereinander aufgeteilt, die meisten von ihnen sitzen im
Stadtrat. „Die Baumonopolisten steuern die Stadt“, heißt es in einem Film,
den Alexei Nawalny kurz vor seiner Vergiftung in Nowosibirsk gedreht hat.
Die Stadt ist eine Baustelle. Es fehlten die Grünflächen, Erholungsecken,
Parks, sagen viele Menschen.
## Swetlana Kawersina will etwas ändern
Swetlana Kawersina, die Aktivistin von der Schleuse, ist tief gläubig,
radikaler Konservatismus ist ihr aber höchst suspekt. Als Kirchenvertreter
vor sechs Jahren damit begannen, Rockkonzerte zu verbieten, und
Schlägertypen schickte, um die „Ungläubigen zur Vernunft“ zu bringen,
reichte es der Sozialarbeiterin. Sie ging auf die Straße, fand sich
inmitten schwarz gekleideter, durchtrainierter Männer, die sie und ein
Dutzend weiterer Frauen umstellten. „Da verlor ich meine Angst“, sagt sie.
Kawersina will mitreden, will mitgestalten. „Im Stadtrat gibt es keinen
Dialog. Im Stadtrat wird aufs Knöpfchen gedrückt und alles einfach
abgenickt. Was die Leute tatsächlich schmerzt, das wollen die Abgeordneten
nicht hören“, sagt sie – und will genau dorthin: in die Volksvertretung,
als Abgeordnete für ihren Bezirk, für die Schleuse.
Am kommenden Sonntag wählen die Nowosibirsker wie so viele andere im Land
ihr Lokalparlament. Ein Gremium, das auch imstande wäre, den Bürgermeister
von seinem Posten zu verjagen. Schon 2014 hatten die Nowosibirsker den
[1][Aufstand geprobt], hatten einen Kommunisten zum Bürgermeister gemacht.
Egal wer, Hauptsache, niemand von Einiges Russland, hatte es geheißen. Doch
Anatoli Lokot, die Alternative von damals, arrangierte sich schnell mit den
unbeliebten Vertretern von Staatspräsident Wladimir Putins
Regierungspartei. Er ist bis heute im Amt, quasi ein Schaf im Wolfspelz.
## Sergei Boiko nimmt es mit den Mächtigen auf
Diese Enttäuschung will die Koalition Nowosibirsk 2020 um den
IT-Spezialisten Sergei Boiko nun überwinden. Der knapp 40-Jährige hat
Menschen wie Swetlana Kawersina um sich geschart, mehr als 30 Männer und
Frauen, Ökoaktivist*innen, Tierschützer*innen, Journalisten, mit denen er
das Machtmonopol im Stadtrat brechen will. Alle von ihnen sind in
Konflikten mit den Mächtigen erprobt, nun sollen aus den Aktivist*innen
Politiker*innen werden. Die Koalition als Plattform von Gleichgesinnten,
der Jüngste ist gerade einmal 19 Jahre alt.
„In Russland steht man irgendwann immer vor der Frage: Abhauen oder in die
Politik gehen, um etwas zu ändern? Ich bin geblieben“, sagt Boiko im
Hauptsitz der Koalition. Hier stapeln sich Infobroschüren, Sticker mit der
Aufschrift „Es ist Zeit, die Machtverhältnisse zu verändern“, die
freiwilligen Helfer*innen trudeln ein, die Telefone klingeln. Ein
Jugendlicher will die Fahne der Koalition abholen, um mit ihr auf seinem
Rad durch die Stadt zu fahren. Ein mittelalter Mann möchte wissen, für wen
er in seinem Bezirk stimmen soll. Helferin Antonina gibt seine Adresse in
den Rechner, schon spuckt das Programm den Namen des Kandidaten aus.
„Kluges Wählen“ nennt sich die Methode. [2][Alexei Nawalny] hatte sie
erfunden und in Moskau erprobt, mit Erfolg. Auch bei den Regionalwahlen
soll sie greifen und Einiges Russland die Stimmen nehmen.
Noch vor ein paar Wochen im August hatte der 44-Jährige auf seiner
Sibirien-Reise einen Stopp in Nowosibirsk eingelegt. „Er hat hier mit uns
zusammengesessen, war so höflich. Es war angenehm zu spüren, dass auch wir
ein Teil seiner Bewegung sind, ein Teil von ihm“, sagt die 21-jährige
Wirtschaftsstudentin Kristina. Sie strahlt. Das Entsetzen über den
Giftanschlag auf ihr Idol folgte nur einige Tage später. „Es passiert so
nah“, sagt Kristina. Dann packt sie mit zwei weiteren Freiwilligen
Plastiktaschen zusammen und macht sich auf zum Infostand irgendwo in der
Stadt. Menschen aufklären, ihnen immer wieder sagen: „Doch, wir können
etwas ändern. In dieser großen Stadt, mit unseren kleinen Schritten.“
## Irina Skalaban: Sie sprechen die Sprache der Jugend
Die Koalition um Boiko sei „das andere“, eine Alternative, die eine
verständliche Sprache spreche, sagt die Nowosibirsker Soziologieprofessorin
Irina Skalaban. „Nawalny hat es geschafft, die Sprache der Jugend zu
sprechen, konkret zu sein. Einem gewöhnlichen russischen Beamten sind die
wahren Wünsche der Menschen fremd, er hat gar nicht gelernt, auf sie zu
hören, auf sie einzugehen, er manipuliert vielmehr mit den Ängsten der
Bürger*innen vor einer ungewissen Zukunft.“ Den Russ*innen, die
Nowosibirsker*innen seien da nicht ausgenommen, fehlten die Ventile, sie
sähen keine Entwicklung und gäben auf. „Die Machtstrukturen sind
antiquiert. Und irgendwann wird es den Menschen zu viel“, sagt Skalaban und
verweist auf Chabarowsk, auch in Sibirien gelegen, wo seit Wochen gegen die
Absetzung des Gouverneurs protestiert wird, auch auf Belarus, wo sich
Dauerherrscher Lukaschenko mit aller Macht an seinen Posten krallt.
In Nowosibirsk sind es die Baulöwen, die den meist jungen
Veränderungsbereiten der Koalition Steine in den Weg legen. Sie lassen
Infostände demolieren oder verbieten die Wahlwerbung. Für Sergei Boiko sind
das Kleinigkeiten. Die Mission des Nawalny-Getreuen von Nowosibirsk, sie
führt weiter: Er will mit seinem Team ein Modell für das ganze Land sein,
auch im Hinblick auf die Dumawahl im kommenden Jahr. „Wir zeigen hier, dass
wir uns zusammentun können, auch wenn wir hie wie da anderer Meinung sind.
Und dass wir als solcher Zusammenschluss etwas erreichen können, um
festgefahrene Strukturen aufzubrechen“, sagt der eloquente Lokalpolitiker
und weiß, dass auch die Stadtratswahl keine einfache sein wird. Vor allem,
weil [3][Nawalnys Stimme fehlt]. „Ohne Alexei und seine Unterstützung wird
es schwieriger für uns, die Wahlen zu stören. Seine Filme, die Auftritte in
seiner Youtube-Sendung zogen immer.“
50 Sitze hat das Stadtparlament von Nowosibirsk, einer
1,6-Millionen-Einwohner-Stadt, die hier alle nur „Stadt des Transits“
nennen, einer Stadt, die im Werden ist und nicht recht weiß, was sie sein
will. Es ist eine Siedlung der Zugezogenen und der Wegziehenden, eine
Konglomerat, in der an jeder Ecke neue, oft qualitativ schlechte Hochhäuser
entstehen. Eine Metropole wie eine riesige Baustelle, mit klapprigen,
mehrfach überstrichenen Bussen, die sich durch die verstopften Straßen
zwängen, mit zweifach angebrachten Zäunen zwischen Gehweg und Straße, mit
viel Staub und dem Geruch der Schweinefabrik in der Luft.
Riesige Wahlplakate säumen die Wege. „Einiges Russland – die Partei der
Fürsorge und des Respekts“, steht auf den meisten. Die Fürsorge und den
Respekt aber nimmt der Partei kaum noch einer ab. „Die Arbeit von Einiges
Russland haben viele Bewohner satt. Aber zur Wahl gehen? Man könne eh
nichts ändern, das sagen viele Passanten den jungen Freiwilligen von der
Koalition am Infostand an einer Shoppingmall im Zentrum von Nowosibirsk.
„Eine solche Einstellung ist die politische Realität im Land, damit müssen
wir umgehen lernen“, sagt Sergei Boiko. Er lebt damit. Wie auch Swetlana
Kawersina damit lebt. Und sich doch fast jeden Tag in ihren Hof „an der
Schleuse“ stellt und mit den Bewohner*innen das Gespräch sucht. Für ein
schöneres Nowosibirsk. Ein politisch wacheres.
9 Sep 2020
## LINKS
[1] /Kremlpartei-verliert-in-Nowosibirsk/!367685/
[2] /Politiker-Nawalny-im-Portraet/!5707786/
[3] /Kreml-Kritiker-Alexej-Nawalny/!5712149/
## AUTOREN
Inna Hartwich
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