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# taz.de -- Regionalwahlen in Russland: Achtungserfolg in Sibirien
> Bei den Wahlen in Russland geht die Nawalny-Methode des „klugen Wählens“
> nicht auf. Auch wegen massiver Wahlfälschungen.
Bild: Auszählung der Stimmen im sibirischen Irkutsk
„Boiko, Boiko“, rufen sie in die Nacht. Die jungen Frauen und Männer
leuchten mit ihren Telefonen in die Dunkelheit, spielen dazu „Modern
Talking“ ab, drehen Videos und schicken sie in die Welt hinaus. Es ist ihr
„Sieg“, wie sie sagen, ihr Tag, für den sie so lange gekämpft haben.
Für den sie sich haben beschimpfen lassen, sie seien Provokateure und
wollten das Land zugrunde richten, für den sie immer wieder die demolierten
Infostände aufgebaut haben und sich auch nicht haben abschrecken lassen,
als maskierte Männer eine Flasche mit ätzender Flüssigkeit in ihren Kreis
geworfen hatten und drei von ihnen mit Atembeschwerden in die Klinik
gefahren werden mussten.
Sie haben Veränderungen gewollt, nun dürfen sie an Veränderungen heran. Im
Stadtrat von Nowosibirsk, der drittgrößten Stadt Russlands. Gleich fünf
Vertreter*innen der Koalition „Nowosibirsk 2020“ haben es bei den
Regionalwahlen am Sonntag auf Anhieb in das lokale Parlament geschafft.
Mit Sergei Boiko, dem „sibirischen Nawalny“, wie sie hier sagen, an ihrer
Spitze. [1][Es ist ein Achtungserfolg in einer mehrtägigen, von
Manipulationen überschatteten Abstimmung]. Wahlbeobachter*innen der NGO
„Golos“ sprachen von „Willkür“ und meldeten 1.300 Verstöße, ein Reko…
vergangenen Jahre.
## Ein Pakt für Nowosibirsk
Boiko hatte – gegen den Widerstand Alexei Nawalnys und seines Teams in
Moskau – an der Idee eines Zusammenschlusses von Aktivisten der Metropole
festgehalten, war überzeugt davon, dass erst eine Gruppe das Machtmonopol
der Regierungspartei „Einiges Russland“ und der Kommunisten, die in
Nowosibirsk eine Art Pakt geschlossen haben, brechen könnte.
Zu 31 wollten sie hier einziehen, ein schwerer Weg. Die Mehrheit haben sie
nicht geholt, „Einiges Russland“ aber hat gleich 11 Plätze eingebüßt.
„Jetzt beginnt die Politik“, sagt der müde Boiko.
Die Wahl vom Sonntag galt als Stimmungstest für die Staatsduma-Wahl im
kommenden Jahr. Nach ersten vorläufigen Ergebnissen kann sich der Kreml
zurücklehnen. Alles gut gegangen. Die Menschen wählten schließlich „mit
Herz und Verstand“, wie Andrei Turtschak, der Generalsekretär von „Einiges
Russland“, am Wahlabend sagte.
Sie wählten selbstverständlich „Einiges Russland“. Bei den
Gouverneurswahlen haben alle 20 von der Kreml-Partei unterstützten
Gouverneure die Abstimmung gewonnen. Über diese Leiter der Regionen nimmt
der Kreml direkt Einfluss auf die Politik in den einzelnen Landesteilen.
Auch in den Regionalparlamenten hat „Einiges Russland“ meist seine Mehrheit
halten können.
## „Kluges Wählen“ ärgerte Kremlpartei
Doch es ist ein hart erkaufter Sieg. [2][Vor allem, weil die Methode
„Kluges Wählen“ von Alexei Nawalny den Vertreter*innen der
Regierungspartei im Vorfeld schwer zu schaffen machte]. In Tambow, 450
Kilometer südöstlich von Moskau, funktionierte sie perfekt, ein Lichtblick
für das Team Nawalnys. Von 18 Sitzen im Stadtparlament gehen 16 auf „kluges
Wählen“ zurück.
Die Methode zielt darauf ab, für Kandidat*innen zu stimmen, die nicht
„Einiges Russland“ angehören oder ihm nahestehen. Nawalny und sein Team
sind eine Art Dienstleiter und suchen anhand von soziologischen Befragungen
nach dem stärksten Gegenpart von „Einiges Russland“ in einem Wahlkreis.
Unumstritten ist dieses Vorgehen nicht, weil es oft auch fragwürdige
Kandidat*innen in die Parlamente bringt.
Insgesamt schlug Nawalnys Strategie bei dieser Wahl fehl, doch zeigte sie
auf, wie bedrängt sich die Herrschenden fühlen. Neuerungen, die nach der
Verfassungsabstimmung eingeführt worden waren, spielten der Elite in die
Hände. Gewählt wurde über drei Tage hinweg, auch schon einmal auf
Baumstümpfen und in Kofferräumen, auch zu Hause konnten die Menschen
abstimmen.
Solche Regeln erschweren die Wahlbeobachtung. Die Verteidigung des
Machtanspruchs der Herrschenden steht über allem, auch in Nowosibirsk. So
muss ein junger Kandidat der Boiko-Koalition, der sich zur Wahl gegen einem
zwielichtigen Geschäftsmann stellte und ihn zunächst übertrumpfte,
beweisen, dass die plötzlich 300 Stimmen für diesen Geschäftsmann gekauft
sind.
## Die Jugend wird politisch
Es sind schmutzige Tricks, auf die Nawalny bereits in seinem
Enthüllungsfilmen einging, die er nicht nur in Nowosibirsk, sondern auch in
Tomsk, 600 Kilometer weiter, drehte. Danach stieg er in einen Flieger nach
Moskau und kollabierte. [3][Vergiftet mit Nowitschok, wie nun auch weitere
Labors bestätigten.] Die Postproduktion musste ohne das Idol der
oppositionellen Jugend funktionieren.
In Nowosibirsk hatte Nawalny Boiko an seiner Seite, in Tomsk, der
westsibirischen Studentenstadt, Xenia Fadejewa und Andrei Fatejew. Ein
Schock für die jungen Aktiven, als Nawalny ausgeschaltet wurde – und ihnen,
so kurz vor der Wahl, das Sprachrohr fehlte.
Und doch spürten sie Aufwind. Plötzlich interessierten sich auch die
Unpolitischsten für das Geschehen in ihrer Stadt. Die Politaktivisten
agitierten, sie sprachen vor allem die Jugend an, mit Filmchen auf
Instagram, mit Aufrufen auf Telegram, mit Sendungen auf Youtube. Es
funktionierte.
Wie auch Boiko gelang Fadejewa und Fatejew, ebenfalls vom regionalen
Nawalny-Stab, eine Überraschung bei diesen Wahlen. „Freunde, wir haben
gesiegt“, meldete Fadejewa am späten Sonntagabend, in acht von neun
Wahlkreisen hatte sie die Vertreterin von „Einiges Russland“ von ihrem
Posten gejagt.
## Gang durch die Institutionen
Bei Boiko dauerte die Auszählung länger. Sein Gegner war gewichtiger: Doch
auch der Kommunist Renat Suleimanow, seit 1996 im Stadtparlament vertreten
und die rechte Hand des Nowosibirsker Bürgermeisters, muss nun weichen.
Der 37-jährige IT-Mann, der sich vor fünf Jahren aufmachte, die Politik von
Nowosibirsk mitzugestalten, kann nun seinen Gang durch die Institutionen
beginnen – in einem Gremium, das übers große Ganze gesehen wenig zu melden
hat.
Den Menschen in der Stadt aber zeigen kann: Ja, Politik ist auch das, was
im eigenen Hof passiert. Politik sind Gehwege, Spielplätze, Sitzbänke.
Nicht einfach nur die Bestätigung des herrschenden Regimes, wie es bei
Wahlen bislang oberste Priorität ist.
14 Sep 2020
## LINKS
[1] https://www.spiegel.de/politik/ausland/alexej-nawalny-mitarbeiter-erzielen-…
[2] /Vor-Kommunalwahlen-in-Russland/!5708161/
[3] /Giftanschlag-auf-Alexej-Nawalny/!5713966/
## AUTOREN
Inna Hartwich
## TAGS
Russland
Regionalwahlen
Alexei Nawalny
Russland
Russland
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