| # taz.de -- Neues Werk von Lyrikerin Anne Carson: Fragen in die Mona Lisa gieß… | |
| > Rätselhaft schillernde Gedichte von Anne Carson in ihrem neuen Werk: | |
| > „Irdischer Durst“. Darin reiht sie Bilder und Worte assoziativ | |
| > aneinander. | |
| Bild: Die kanadische Dichterin Anne Carson, die im Juni 70 Jahre alt wurde. Hie… | |
| Was ist das: „Irdischer Durst“? Der Leser des Bandes mit Gedichten, Essays | |
| und Aphorismen der kanadischen Dichterin und Altphilologin [1][Anne Carson] | |
| muss einige Seiten lang warten, bis er eine für die Autorin bezeichnende | |
| Antwort erhält: „Jeden Tag goss er seine Fragen in sie“, heißt es in „�… | |
| die Mona Lisa“ und mit „er“ ist offenbar der Maler des Bildes, Leonardo da | |
| Vinci, gemeint. | |
| „So wie man Wasser aus einem Behälter in einen anderen gießt, und es goss | |
| zurück. Erzähl mir nicht, dass er seine Mutter malte, oder Lust oder so. Es | |
| gibt einen Moment, da ist das Wasser nicht in dem einen und nicht in dem | |
| anderen Behälter – ein Durst war das, und er nahm an, dass er fortfahren | |
| würde, bis die Leinwand völlig leer wäre. Aber Frauen sind stark. Sie | |
| verstand etwas von Behältern, von Wasser und vom irdischen Durst.“ | |
| Eine rätselhafte, poetische Antwort, die offenbar den schöpferischen | |
| Prozess beschreibt. Die an Roland Barthes erinnert, der einmal gesagt haben | |
| soll, dass ein gutes Gedicht einen besser versteht als man sich selbst. Nur | |
| dass an die Stelle des Gedichts hier das Bild tritt. Und eine Antwort, die | |
| auf das elementare Bedürfnis nach dem schöpferischen Prozess hindeutet. | |
| ## Gedichtfragmente und Pastiches | |
| Bereits im ersten Teil von „Irdischer Durst“ hatte Carson Hinweise auf ihr | |
| poetisches Verfahren gegeben. Es sind Gedichtfragmente, die an die | |
| Fragmente des um 600 vor unserer Zeitrechnung lebenden griechischen | |
| Dichters Mimnermos angelehnt sind. Pastiches, die Inhalte des Vorbilds | |
| übernehmen und Leerstellen mit eigenem Text füllen. | |
| Mimnermos, erklärt Carson in dem nachfolgenden Essay, „Mimnermos und die | |
| Wandlungen des Hedonismus“, hatte kein Interesse an historischen Bezügen. | |
| So kann sie auch nur über die Identität des Helden mutmaßen, von dem er in | |
| einem der Fragmente sagt, dass er in der Nähe der Heimatstadt Mimnermos’, | |
| Kolophon, gekämpft hat. | |
| „Doch wer ist dieser unvergleichliche Mann …? Sein Vater? Sein Großvater? | |
| Vielleicht frei erfunden? … Er lässt diese glänzende Erscheinung durch die | |
| Zeit wandeln wie eine Nadel, welche jene zwei Momente zusammennäht, aus | |
| denen Nostalgie gemacht ist. Das Damals und das Jetzt. Sein Thema ist die | |
| Tatsache, dass wir nicht mehr im Licht stehen (wenn wir nach ihm suchen).“ | |
| ## Erinnerung an Kafka | |
| Das erinnert an Kafka, auf den es mehrere Hinweise in „Irdischer Durst“ | |
| gibt. Wie Carson nimmt Kafka eine historische Gegebenheit nur zum Anlass, | |
| um eine eigene Geschichte zu erzählen, die eigenen Gedanken, eigenen | |
| Absichten folgt. In seinen kurzen, aphoristischen Texten stellt Kafka wie | |
| Carson Gegensätze schroff gegeneinander, weist auf deren dialektische | |
| Bezüge hin. | |
| Die Gedichte in „Irdischer Durst“ sind nicht leicht zugänglich, reihen sich | |
| in die Lyrik der Moderne ein, die durch letztlich nicht ganz | |
| entschlüsselbare assoziative Aneinanderreihung vor allem von Bildern und | |
| Worten geprägt ist. Aber der Leser wird durch die Beschäftigung mit ihnen | |
| belohnt. Denn Carsons Gedichte und Aphorismen stärken seine intellektuelle | |
| Souveränität. Sie ermöglichen neue Perspektiven auf die Dinge des Lebens. | |
| 25 Aug 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Fokke Joel | |
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