| # taz.de -- Weibliche Proteste in Belarus: Blumen gegen Knüppel | |
| > Frauenpower statt Schnauzbart: Im Protest gegen Lukaschenko entdeckt | |
| > Belarus seine weibliche Seele – stark und hartnäckig. | |
| Bild: Symbolfigur des friedlichen Protests: Nina Baginskaja in Minsk am 26. Aug… | |
| Maria Kalesnikawa steht vor Stacheldraht, dahinter Männer in Kampfmontur. | |
| In Militärformation bewachen die Soldaten das Stella-Denkmal im Herzen von | |
| Minsk. Eigentlich wollte Kalesnikawa hier gemeinsam mit Mitstreitern des | |
| neu gegründeten Koordinationsrats ihre Pläne für einen friedlichen | |
| Machtübergang in [1][Belarus] vorstellen. Doch an Reden ist jetzt nicht zu | |
| denken. Stattdessen gestikuliert Kalesnikawa. Sie hält die Menschenmassen | |
| davon ab, sich den Soldaten weiter zu nähren. Bloß keine Eskalation. Alles | |
| muss friedlich bleiben. | |
| Diese Szene hat Symbolcharakter: Es sind nicht die beiden Männer neben ihr, | |
| der eloquente ehemalige Kulturminister Pavel Latushka oder der bullige | |
| Streikführer Sergei Dylewski, die die Führungsrolle ergreifen. Wie bei so | |
| vielen entscheidenden Situationen in den letzten Wochen ist es eine Frau, | |
| die in Belarus Ton und Richtung vorgibt. | |
| Auf den ersten Blick mag das verwundern: Wenn man an Belarus denkt, denkt | |
| man zuerst an Traktoren, Kartoffeln und natürlich an Langzeitdiktator | |
| Alexander Lukaschenko. Oftmals scheint es, als sei der Schnauzbart des | |
| Machthabers Identität und Gründungsmythos dieser Nation zugleich. | |
| Lukaschenko, der das Land quasi seit der Unabhängigkeit nach dem Zerfall | |
| der Sowjetunion regiert, dominiert das Land nicht nur politisch. Er | |
| versucht es auch kulturell zu prägen. Das reicht von altbackenem | |
| Sowjet-Symbolismus bis hin zu offen zur Schau gestellter Maskulinität aus | |
| dem Antiquariat. | |
| „Das Weibliche“ findet bei Lukaschenko nicht nur im Privaten nicht statt, | |
| es wird auch im Öffentlichen nivelliert und auf Ästhetik reduziert. So | |
| umgibt er sich bei Fototerminen gerne mit adretten jungen Frauen, | |
| verschließt ihnen aber auch Ministerien und Botschaftsjobs. Und das, obwohl | |
| (oder gerade weil) Lukaschenko um die Stärke und Hartnäckigkeit | |
| belarussischer Frauen weiß. | |
| ## Geschichtsschreibung im Exil | |
| Denn auch er kennt die alten Sagen: Die mittelalterlich-volkstümliche | |
| Legende von Rogneda von Polozk erzählt, wie Großfürst Wladimir I. die junge | |
| Rogneda vor den Augen ihrer Eltern vergewaltigt und demütigt, die Eltern | |
| daraufhin ermordet und letztendlich Rogneda verschleppt und ehelicht. Als | |
| sich Rogneda eines Nachts mit einem Dolch bewaffnet in die Gemächer | |
| Wladimirs schleicht, wird dieser Akt der späten Vergeltung nur knapp | |
| vereitelt. | |
| Die Charakterstärke Rognedas findet sich bis heute im Selbstverständnis der | |
| Belarussinnen, mussten ja auch sie über alle weiteren Generationen Leid und | |
| Kummer über sich ergehen lassen. Die mit dem Literaturnobelpreis | |
| ausgezeichnete Schriftstellerin [2][Swetlana Alexijewitsch] machte es sich | |
| zur Aufgabe, diesen Frauen literarisch eine Stimme zu verleihen. Sie | |
| schreibt über die Gräueltaten Stalins, den Afghanistankrieg und die | |
| Nuklearkatastrophe in Tschernobyl. | |
| Alexijewitsch gibt Einblicke in die Leidensfähigkeit und Stärke der | |
| Belarussinnen. Am deutlichsten wird dies in ihrem Werk „Der Krieg hat kein | |
| weibliches Gesicht“. Dort dokumentiert sie die Schicksale sowjetischer | |
| Frauen während des Zweiten Weltkriegs und arbeitet ihre vergessenen | |
| Heldentaten heraus. Da diese Art der Geschichtsschreibung wenig mit | |
| Lukaschenkos Vorstellungen gemein hat, verwundert es nicht, dass | |
| Alexijewitsch lange im Exil leben musste. | |
| Und auch von Politik hat Lukaschenko klare Vorstellungen: Als sich im | |
| Vorfeld der Präsidentschaftswahlen [3][Swetlana Tichanowskaja] nach der | |
| Festnahme ihres Ehemanns zur Protestkandidatur entschließt, kanzelt | |
| Lukaschenko sie öffentlich ab: „Unsere Verfassung ist nicht für eine Frau | |
| gemacht“, lässt der Schnauzbart verlauten. Großspurig mutmaßt er, dass das | |
| „arme Ding“ unter der Last einer Präsidentschaft zusammenbräche. | |
| ## Hupkonzerte und Solidaritätsketten | |
| Doch Tichanowskaja und ihre Mitstreiterinnen Maria Kalesnikawa und Veronika | |
| Zepkalo lassen sich nicht einschüchtern. Das Frauen-Trio löst innerhalb | |
| kürzester Zeit eine noch nie da gewesene Wechselstimmung im Lande aus. In | |
| Minsk strömen mehr als 60.000 Menschen zu den Veranstaltungen. Der Macho im | |
| Präsidentenpalast muss geschäumt haben. Denn nachfolgend setzt das Regime | |
| alles daran, den Wahlkampf der sogenannten „Drei Grazien“ zu sabotieren. | |
| Nachdem am Wahlabend die dem Präsidenten hörige Wahlkommission die | |
| gewünschten Fantasiezahlen präsentiert, kommt es zu Protesten im ganzen | |
| Land. Die brutale Repression der Omon-Truppen wird mit Musik, Hupkonzerten | |
| und Solidaritätsketten gekontert. Das geht vor allem den männlichen Teilen | |
| der Protestbewegung nicht weit genug, der Ton in den Telegramgruppen wird | |
| schärfer. Der im Ausland lebende Blogger Stepan Putilo ruft zur | |
| Konfrontation mit den Einsatzkräften auf. | |
| Diese Eskalationsstrategie wird von den Frauen jedoch nicht toleriert: Sie | |
| rufen zu Frauenmärschen auf. Weiße Kleidung soll deeskalieren und das | |
| martialisch überzeichnete Pseudomaskuline entwaffnen: Blumen statt | |
| Baseballschläger. Symbolfigur dieses friedlichen Protests wird [4][Nina | |
| Baginskaja]. Die 73-jährige geht seit Jahrzehnten gegen „den Schnauzer“ auf | |
| die Straße, bewaffnet nur mit der weiß-rot-weißen Fahne eines unabhängigen | |
| Belarus. Als Polizisten ihr die Fahne entreißen, kommt sie am nächsten Tag | |
| wieder. Mit einer kleineren Fahne. Jedoch mit noch mehr Stolz und Würde. | |
| Rogneda, Swetlana Alexijewitsch, Nina Baginskaja, Swetlana Tichanowskaja, | |
| Vernonika Zepkalo, Maria Kalesnikawa. Diese Namen stehen für Mut und | |
| Solidarität, für Wehrhaftigkeit und Friedfertigkeit, für die belarussische | |
| Seele. Den Männern bleibt die Rolle der Geschichtenschreiber. Wie damals | |
| Nestor von Kiew, der die Sage von Rogneda für die Nachwelt aufzeichnete. | |
| Mögen die Frauen des Sommers 2020 in ähnlicher Weise in die Mythologie | |
| eingehen. Sie erzählen auf jeden Fall eine bessere Geschichte als die des | |
| Schnauzbarts. | |
| 2 Sep 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sven Gerst | |
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