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# taz.de -- taz-Sommerserie: „Sommer vorm Balkon“: Mariendorf am Bosporus
> Um der Wohnungsnot zu begegnen, entstand in den 1930er Jahren in
> Mariendorf eine Siedlung. Warum aber tragen die Straßen türkische Namen?
Bild: Ecke Marmaraweg/Bosporusstraße
Berlin taz | Ich brachte abends einen Freund nach Hause – Neuberliner,
wohnt also in Mariendorf. Da war ich ja noch nie!, dachte ich, fuhr ihn
deshalb mit dem Auto hin – und stieß auf Neugier-Trigger Nummer 1:
Dardanellenweg? Goldenes Horn, Bosporusstraße? Smyrnaer, Brussaer,
Marmaraweg? Wie kommen diese Straßennamen hierher? Neugier-Trigger 2: Für
Displaced Persons, Überlebende der Nazi-Konzentrationslager, wären hier
Häuser gebaut worden, sagt der Freund. Das habe ihm ein Nachbar erzählt.
What?
Die Mariendorfer Siedlung mit den (teils altdeutschen) Namen türkischer
Orte liegt in etwa in der Mitte des sich vom KadeWe bis nach Brandenburg
erstreckenden und damit ziemlich langen und ziemlich schmalen Bezirks
Tempelhof-Schöneberg. Genauer gesagt: rechts in der Mitte, auf dem
Stadtplan gesehen. Im Osten grenzt sie an den Neuköllner Stadtteil Britz.
Es ist eine idyllische Ecke: In der „türkischen“ Siedlung ducken sich
überwiegend dreigeschossige lang gestreckte Mietwohnungsblöcke unter hohe
Bäume. Wiesen, Grünanlagen, Spielplätze und Spazierwege ziehen sich durch
die gesamte Anlage, dazwischen stehen an den schmaleren Straßen kleine –
zum Teil wirklich sehr kleine! – Einfamilienhäuschen. Die kleinsten
erinnern mit dem ersten Obergeschoss unter einem Spitzdach an Hexenhäuschen
aus alten Kinderbüchern. Menschen, denen man begegnet, grüßen freundlich
auf der Straße oder über Gartenzäune hinweg.
Gebaut wurden die Häuser hier nicht für Displaced Persons (DP), das lässt
sich leicht recherchieren. Sie stammen überwiegend aus den 1930er Jahren:
Eine ältere Karte von Mariendorf von 1906, die sich im Internet finden
lässt, zeigt die Gegend noch nahezu unbebaut und unerschlossen.
## Große Wohnungsnot
Doch Wohnungen mussten dringend her: Die Archivarin des Bezirks (vielen
Dank für die Hilfe, Frau Becker!) verweist auf einen Verwaltungsbericht des
Bezirksamts Tempelhof von 1931: Die Wohnungsnot war groß (im
Berichtszeitraum vom 1. April 1930 bis zum 31. März 1931 stieg die Zahl der
Wohnungssuchenden in Tempelhof von 3.531 auf 4.812), Arbeitslosigkeit und
Armut ebenso (die Wirtschaftskrise!). Viele Mietwohnungen waren überbelegt,
alt und verwohnt, die Mieter*innen krank.
Der Bezirk reagierte mit heute ganz aktuell erscheinenden Maßnahmen: Er
erzwang Mietverträge, wenn Eigentümer sich weigerten, etwa an Arbeitslose
zu vermieten, oder stieg selbst als Mieter ein, wenn es anders nicht ging.
Und er baute.
Es entstanden im damals noch ländlichen Mariendorf also die typischen
Wohnblöcke der 1930er Jahre: nüchtern, schmucklos, praktisch, aber mit viel
Grün dazwischen für Beete, Bänke, Wäscheleinen, Nachbarschaftsschwätzchen
und Kinder. Die damals gepflanzten Bäume überragen heute die Häuser, von
denen der Großteil längst modernisiert und manche um ein Geschoss
aufgestockt wurden. Immer noch gehören die meisten Wohnblöcke hier
landeseigenen Wohnungsgesellschaften oder alten Berliner Genossenschaften.
## Mikve und Yeshiva
Für die Überlebenden der Nazi-Konzentrationslager wurden die Blöcke also
nicht gebaut, aber tatsächlich lebten sie in den Nachkriegsjahren hier:
wenn auch nicht in der „türkischen“ Siedlung, so doch direkt nebenan in
ganz ähnlichen Blöcken auf der anderen Seite der Rixdorfer Straße, die hier
durch Mariendorf führt. Das wurde übrigens, wie einst Rixdorf auch, im 13.
Jahrhundert von Tempelrittern gegründet.
An das DP-Lager, eins von dreien im Nachkriegsberlin, erinnert eine Tafel
an der Bushaltestelle Rixdorfer Ecke Eisenacher Straße. Das Camp ist gut
dokumentiert: Es gab dort mehrere Schulen, darunter eine Grundschule mit
400 Schüler*innen, eine Jeschiwa, also eine religiöse Akademie, und eine
Mikwe, ein rituelles Bad. Koscher gekocht wurde täglich für 900 Personen,
heißt es auf der Webseite des [1][United States Holocaust Memorial]. Etwa
3.250 jüdische Holocaust-Überlebende haben von der Eröffnung im Juli 1946
bis Mitte 1948 in dem Camp gelebt, das von der UNRRA (United Nations Relief
and Rehabilitation Administration) betrieben wurde.
Schwarzweiß-Aufnahmen des Fotografen Helmuth William von Kujawa vom Juli
1948, damals veröffentlicht in der amtlichen Bezirkszeitung Die Tempelhofer
und verwahrt im Bezirksarchiv, zeigen Bewohner*innen und Häuser hinter
hohen Zäunen – die Überlebenden des Holocaust mussten bewacht werden,
besser: beschützt.
Warum, erklärt vielleicht ein Artikel, der im Januar 1949, nach der Räumung
des Camps, in einer Berliner Zeitung erschien. Er beschreibt die ehemaligen
jüdischen Bewohner*innen als „arbeitsscheu“, „Schieber“ und
„Schwarzmarkthändler“, die noch die Türschlösser und Klingeln der einst …
ausgestatteten Häuser („teppichbelegte Treppenflure“!) verkauft hätten.
Weshalb diese nun in unbewohnbarem Zustand seien, und das angesichts der
Wohnungsnot der Berliner*innen nach den Zerstörungen des Krieges! So
schrieb die Zeitung, vier Jahre nach dem deutschen Massenmord an Jüdinnen
und Juden und dem von Deutschland angezettelten Weltkrieg.
Die Amerikaner – Mariendorf lag im amerikanischen Sektor – ließen in der
Siedlung dann übrigens 308 neue Wohnungen erbauen, ein Geschenk an die
Berliner*innen. Ein Denkmal an der Ecke Goldenes Horn/Bosporusstraße
erinnert daran.
Doch warum nun diese türkischen Straßennamen? Im Bezirksarchiv findet sich
kein Hinweis. Das Internet liefert immerhin die Information, dass die
Straßen und Gassen in diesem Teil Mariendorfs ihre Namen zwischen 1931 und
1936 erhielten – wohl zu der Zeit also, als die Wohnblocks dort geplant und
erbaut wurden.
Sie erinnerten an die Waffenbrüderschaft zwischen Deutschland und der
Türkei, schlägt die islamische Webseite [2][Eslam.de] vor. Die beiden
Länder hatten im Ersten Weltkrieg ein Militärbündnis geschlossen. Quatsch,
sagt meine türkeistämmige Freundin und sieht in den Straßennamen den
gleichen imperialistischen Herrschaftsanspruch wie in denen des
Afrikanischen Viertels im Wedding, die nach ehemaligen deutschen Kolonien
benannt sind.
## Tümpel aus der Eiszeit
Schlendert man bis zum südöstlichen Rand der kleinen Siedlung mit den
türkischen Namen, steht man vor einer weiteren Überraschung: der
Kleingartenkolonie „Am Türkenpfuhl“. Tatsächlich führt von hier ein
schmaler, von Grün überwucherter Fußweg zu einem kleinen Tümpel, von einer
Brücke überspannt – überquert man sie, ist man in Britz, Neukölln.
Der „Türkenpfuhl“ ist das aber noch nicht, der ist größer und ein paar
Meter weiter westlich. Die einst zahlreichen Pfuhle an der Grenze von
Mariendorf und Britz, der größte der „Karpfenpfuhl“ im nahen Britzer
Garten, sind Hinterlassenschaften der letzten Eiszeit. Die wenigen heute
noch erhaltenen sind Naturdenkmäler – und deshalb eingezäunt, wie auch der
nahezu komplett überwucherte Türkenpfuhl, um den sich dennoch eine kleine
Grünanlage spannt.
Für ein angrenzendes Neubauprojekt – ja, gebaut wird hier immer noch –
wurden vor wenigen Jahren zahlreiche Gutachten über Flora und Fauna rund um
den Türkenpfuhl erstellt: Mäusebussarde, Zaunkönige, Teichrallen und
diverse Krötenarten leben demnach an dem kleinen Teich.
Warum der aber „Türkenpfuhl“ heißt, das weiß auch der Chef der
gleichnamigen Laubenkolonie nicht. Er habe das selbst schon herauszufinden
versucht und wundert sich kein bisschen, dass die taz anruft und danach
fragt. Eine Kartensammlung im Internet ([3][histomapberlin.de]) verzeichnet
den Namen „Türkenpfuhl“ ab 1969 – vorher hieß der Pfuhl demnach einfach…
„Pfuhl“.
Vielleicht kam der Name mit den türkischen Einwander*innen, die in den
sechziger Jahren auch nach Berlin kamen – und sich sicher auch in
Mariendorf am Bosporus niederließen.
10 Aug 2020
## LINKS
[1] http://United%20States%20Holocaust%20Memorial
[2] http://www.eslam.de/begriffe/g/goldenes_horn_berlin.htm
[3] http://histomapberlin.de/histomap/de/index.html
## AUTOREN
Alke Wierth
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