| # taz.de -- Immer mehr Femizide in der Türkei: Geschlagen, gewürgt, verbrannt | |
| > Der grausame Mord an einer jungen Frau in der Türkei löst heftige | |
| > Proteste und Debatten aus – wieder einmal. Die Gewalt gegen Frauen nimmt | |
| > stetig zu. | |
| Bild: Gegen tödliche Gewalt, die sich explizit gegen Frauen richtet: Femizide … | |
| Istanbul taz | Es ist eines der grausamsten Verbrechen der jüngsten Zeit in | |
| der Türkei. Geschlagen, gewürgt, noch lebend ins Feuer geworfen und am Ende | |
| die sterblichen Überreste in einem Fass mit Beton übergossen: der Mord an | |
| der 27-jährigen Pınar Gültekin hat zu einem landesweiten Aufschrei der | |
| Empörung geführt. | |
| In Istanbul, Izmir, Ankara und vielen weiteren Städten gab es spontane | |
| Protestdemonstrationen. Selbst in gesellschaftlichen Konflikten sonst eher | |
| zurückhaltende Prominente aus dem Showbusiness, wie der deutsch-türkische | |
| Sänger Tarkan, äußerten öffentlich ihre Empörung. | |
| Am Montagabend hatten Suchtrupps die Leiche der seit Tagen vermissten Pınar | |
| Gültekin gefunden, wenig später wurde auch ihr mutmaßlicher Mörder | |
| festgenommen. Es handelt sich um ihren Ex-Geliebten Cemal Metin Avcı – | |
| einen Familienvater, mit dem Pınar Gültekin zuvor eine Affäre beendet hatte | |
| und der sie offenbar aus Rache ermordete. | |
| Die Betroffenheit ist auch deshalb so groß, weil der Mord in einem Milieu | |
| stattfand, in dem eine solche Tat nicht vermutet wird. Auf jetzt | |
| veröffentlichten Fotos von Pınar Gültekin sieht man eine lebensfrohe | |
| 27-jährige Studentin aus gutem Haus. Ihr Mörder ist ein smarter | |
| Mittdreißiger, erfolgreicher Geschäftsmann und Manager einer Bar in einem | |
| Touristenort an der Ägäis. | |
| ## Mehrere Hundert Frauenmorde pro Jahr | |
| Beide stammen aus Muğla, einer Stadt im liberalen Westen der Türkei, unweit | |
| der Touristenhochburgen Bodrum und Marmaris. In den sozialen Medien brachen | |
| sich die Wut und Empörung Bahn. „Was ist los mit den Männern in der | |
| Türkei“, schrieb eine Frau auf Twitter, „seid ihr so schwach, dass ihre | |
| eure Männlichkeit nur durch Morde beweisen könnt?“ | |
| Denn trotz aller öffentlichen Debatten, trotz Gesetzen zum Schutz von | |
| Frauen nimmt die Anzahl der [1][Femizide in der Türkei] Jahr für Jahr zu. | |
| Für 2019 hat die Plattform „Wir stoppen die Frauenmorde“ (Kadın | |
| Cinayetlerini Durduracağız) 474 derartige Delikte gezählt. Bis auf drei | |
| Fälle wurden alle Morde von Ehemännern, Ex-Ehemännern, Lebensgefährten oder | |
| anderen Männern aus dem unmittelbaren familiären Umfeld verübt. | |
| Die letzten Zahlen gibt es für März dieses Jahres, wo die Plattform 29 | |
| Morde registrierte. In den vergangenen Jahren haben besonders brutale | |
| Frauenmorde immer wieder zu großen öffentlichen Debatten geführt, doch in | |
| der Praxis ändert sich kaum etwas. | |
| Im Gegenteil: Frauenorganisationen machen die zunehmend islamische, | |
| reaktionäre Politik der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan direkt | |
| dafür verantwortlich, dass Frauen in der Türkei nach wie vor oder sogar | |
| zunehmend wieder als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Selbst der | |
| vorsichtige Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu hat jetzt die steigende | |
| Anzahl von Frauenmorden beklagt und gefordert, bestehende Gesetze zur | |
| Gleichstellung von Frauen endlich in die Praxis umzusetzen. | |
| ## Türkei will aus der Istanbul-Konvention aussteigen | |
| Doch innerhalb der regierenden AKP ist eine genau gegensätzliche Debatte im | |
| Gange. Islamistische Ordensführer und ihre Strohmänner in der AKP fordern | |
| seit Langem, dass die Türkei aus der 2011 beschlossenen Istanbul-Konvention | |
| des Europarats, in der Frauenrechte völkerrechtlich verbindlich festgelegt | |
| wurden, wieder austreten soll. | |
| Als erstes Land hatte die Türkei, weil sie die Veranstaltung des Europarats | |
| in Istanbul organisiert hatte, 2012 den Vertrag im Parlament ratifiziert. | |
| [2][Deutschland tat das erst 2018]. Jetzt wollen die Islamisten, dass das | |
| Land wieder aussteigt, und Erdoğan stellt sich auf ihre Seite. | |
| Bei einer Parteiversammlung Ende Februar kündigte der Präsident an, man | |
| werde die Konvention noch einmal „überprüfen“. Sämtliche | |
| Frauenorganisationen laufen mit Unterstützung der Opposition Sturm gegen | |
| diesen Rückschritt. Doch die Islamisten geben zunehmend den Ton an, wie | |
| auch die Entscheidung zeigt, die Hagia Sophia wieder in eine Moschee | |
| umzuwandeln. | |
| Wie auch in anderen Fällen ist Erdoğan mit seiner Politik nicht allein. In | |
| Ungarn lehnte das Parlament erst im Mai dieses Jahres eine Ratifizierung | |
| der Istanbul-Konvention ab. Auch Polen und Kroatien haben gegen die | |
| „Gender-Ideologie“ Vorbehalte angemeldet. | |
| 22 Jul 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Serie-Was-von-2019-bleibt/!5651862 | |
| [2] /Menschenrechtlerin-zu-Gewalt-an-Frauen/!5660892 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
| ## TAGS | |
| Türkei | |
| Schwerpunkt Femizide | |
| Istanbul-Konvention | |
| Feminismus | |
| Gewalt gegen Frauen | |
| TV-Krimi | |
| taz.gazete | |
| taz.gazete | |
| taz.gazete | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Türkische Serie „Ein guter Mensch“: Selbstjustiz im Katzenkostüm | |
| Ein Mann im Ruhestand erhält die Diagnose Alzheimer. Bevor er vergisst, | |
| geht er auf Rachefeldzug gegen Verbrecher und die Gesellschaft. | |
| Serie: Was von 2019 bleibt: Wenn Frauennamen Hashtags werden | |
| In der Türkei haben Männer 2019 mindestens 318 Frauen getötet. Auf Twitter | |
| und auf der Straße kämpfen Frauen gegen die Männergewalt. Ihre Wut ist | |
| groß. | |
| Frauen im türkischen Wahlkampf: Schnauzbart gegen Vollbart | |
| In allen Parteien ist die Zahl der weiblichen Kandidierenden gesunken. | |
| Prominente Männer dominieren den Wahlkampf, auch bei der HDP. | |
| Femizide in Deutschland und Türkei: Frauenmorde benennen | |
| Frauenmorde werden in Deutschland als Beziehungstat abgetan. Anders in der | |
| Türkei: Dort werden patriarchale Strukturen hinter den Morden entlarvt. |