# taz.de -- Frauen im türkischen Wahlkampf: Schnauzbart gegen Vollbart | |
> In allen Parteien ist die Zahl der weiblichen Kandidierenden gesunken. | |
> Prominente Männer dominieren den Wahlkampf, auch bei der HDP. | |
Bild: Alle schicken Männer ins Rennen, die Rechten schicken Meral Akşener | |
Am 24. Juni ist es soweit: Die Türkei wählt zum ersten Mal gleichzeitig mit | |
dem Staatsoberhaupt auch die Vertreter*innen für das türkische Parlament. | |
Den Zahlen der Hohen Wahlkommission (YSK) zufolge sind dabei nur knapp 20 | |
Prozent aller Kandidat*innen Frauen. Bei den Parlamentswahlen 2015 war das | |
anders. Allein die ins Amt gewählten weiblichen Abgeordneten (97 von 550) | |
stellten fast 20 Prozent des Parlaments, was bedeutet, dass es mehr | |
Bewerberinnen gegeben hat. | |
Dank der Doppelspitzenregelung kann in diesem Jahr den höchsten | |
Frauenanteil an Kandidatinnen die prokurdische HDP vermelden. Genau wie bei | |
den letzten Wahlen treten hier mit 229 von 600 Kandidierenden immer noch | |
mehr Frauen an als bei den anderen Parteien. Trotzdem sind die Zahlen im | |
Vergleich zu 2015 auch hier zurückgegangen, da sich zahlreiche | |
HDP-Politiker*innen, darunter die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden | |
Demirtaş und Yüksekdağ, in Haft befinden oder ihre Immunität aufgehoben | |
wurde. | |
Der HDP folgt die ultranationalistische IYI-Partei mit 159 Kandidatinnen, | |
die sozialdemokratische CHP stellte 136 Frauen auf und die rechtsextreme | |
MHP 76. Die wenigsten Kandidatinnen haben die islamistische Saadet-Partei | |
mit 70 und die kurdisch-islamistische Hüda-Par mit 44 Frauen. | |
## Es mangelt nicht an kompetenten Frauen | |
Im internationalen Vergleich ist die Türkei hier in guter Gesellschaft – | |
fast überall auf der Welt dominieren Männer die Parlamente. In Deutschland | |
liegt der Anteil der Frauen im Bundestag beispielsweise bei 31 Prozent. | |
Fragt man die feministische Soziologin Selda Tuncer nach dem Grund für den | |
geringen Frauenanteil im türkischen Parlament, so sagt sie, dass Frauen zum | |
Gegenstand von Wahlversprechen gemacht werden würden. „Dabei gibt es | |
unzählige Frauen im Land, die kompetent und gebildet genug sind, selbst für | |
ihre Rechte einzustehen und diese auf politischer Ebene einzufordern.“ | |
Laut Tuncer wird im derzeitigen politischen Klima die Kritik an der | |
geringen Anzahl weiblicher Kandidierender überhört: „Wieder sind es die | |
Frauen, die selbstlos beiseite treten und den richtigen Zeitpunkt abwarten | |
sollen. Dabei leiden vor allem die Frauen unter der Krise der letzten Jahre | |
und zahlen den Preis dafür mit ihrem Leben, ihrem Körper, ihrer Arbeit, mit | |
allem, was sie sind und haben. Deshalb sollten nicht Männer in ihrem Namen, | |
sondern die Frauen selbst kämpfen und ihre Forderungen in der Politik | |
formulieren.“ | |
## Der Kampf um die vorderen Listenplätze | |
Nicht allein die Anzahl der nominierten Frauen bestimmt, wie viele Frauen | |
am Ende ins Parlament einziehen, sondern auch der Listenplatz. | |
Parteiübergreifend stehen 49 Frauen an der Spitze der Liste. Erneut ist es | |
die HDP, die die meisten weiblichen Politikerinnen auf erste Listenplätze | |
gesetzt hat, ganze 18. | |
Von den 126 Kandidatinnen der AKP belegen nur vier Frauen vordere | |
Listenplätze. Bei der MHP stehen nur zwei Frauen vorn, bei der | |
Saadet-Partei gar keine. Der einzige offene LGBTI+-Kandidat Hasan Atik | |
steht auf der HDP-Liste von Edirne, allerdings ganz hinten, ohne jede | |
Chance darauf, gewählt zu werden. Die große Mehrheit der weiblichen | |
Kandidierenden hat also gar keine Chance, ins Parlament zu kommen. | |
Der Listenplatz ist das eine, die Repräsentanz das andere. Im Rampenlicht | |
stehen bevorzugt populäre Männer. Die zwei Überraschungskandidaten dieses | |
Wahlkampfs sind der vor drei Monaten aus der Haft entlassene Journalist | |
Ahmet Şık und der für seine regierungskritische Haltung bekannte | |
Theatermacher Barış Atay. Beide kandidieren für die HDP. | |
## Prominente Männer dominieren Wahlkampf | |
Die Begeisterung für die Kandidatur der beiden prominenten Männer wurde vor | |
allem in den sozialen Medien gefeiert, knapp 6.000 Mal wurde Ahmet Şıks | |
Erklärung auf Twitter geteilt, in dem er seine Kandidatur verkündete. Ahmet | |
Şık erhielt den ersten Platz im Wahlkreis Istanbul II. Bereits zwei Mal | |
konnte die HDP-Politikerin Filiz Kerestecioğlu in diesem Wahlkreis ins | |
Parlament einziehen, diesmal steht sie nun auf einer Wahlliste für einen | |
Wahlbezirk in Ankara. | |
Die Soziologin Selda Tuncer kritisiert die überbordende Männlichkeit im | |
Wahlkampf: „Betrachtet man die Wahlvideos der Parteien zur Wahl kommen | |
ausschließlich Männer zu Wort. Selbst bei den fortschrittlichsten Parteien | |
kommen Frauen kaum zu Wort. Die sozialen Medien überschlagen sich mit Fotos | |
und Diskursen über Groß- und Heldentaten beliebter männlicher Kandidaten. | |
Schnauzbärtige gegen Vollbärtige las ich letztens in den sozialen Medien, | |
das trifft es sehr gut.“ Tuncer führt das für die HDP darauf zurück, dass | |
einige der aktiven weiblichen Abgeordneten im Gefängnis sitzen und bei | |
diesen Wahlen nicht durch starke weibliche Persönlichkeiten aus der | |
Frauenbewegung ersetzt wurden. | |
Wie die HDP hat auch die CHP bei diesen Wahlen die Sichtbarkeit von Frauen | |
verringert. Viele in der Öffentlichkeit bekannte weibliche Abgeordnete | |
wurden nicht erneut aufgestellt. Die Menschenrechtlerin Zeynep Altıok | |
Akatlı oder die für ihre Arbeiten im Gesundheitswesen bekannte Medizinerin | |
Tur Yıldız Biçer wurden nicht nominiert, genauso wie die renommierten | |
Politikerinnen Melda Onur und Selina Doğan. | |
## Wahlprogramm der Parteien nur heiße Luft | |
Die CHP gehört zu den Parteien, in deren Wahlkampf Frauen am aktivsten | |
sind, in ihrer Anzahl im Parlament spiegelt sich das allerdings nicht | |
wider. Gülsüm Kav, Sprecherin der Plattform „Wir werden die Femizide | |
stoppen“, hält eine Frauenquote bei Parteien wie der CHP zwar für sinnvoll, | |
meint aber, es wären weit umfassendere Maßnahmen nötig. | |
„In der politischen Repräsentation ist die Quote eine Mindestvoraussetzung. | |
Das reicht aber nicht. Selbst bei Parteien, die sich eine solche Quote in | |
die Satzung geschrieben haben, wie die CHP, sehen wir, dass sie missachtet | |
wird“, so Kav. In Izmir, einer CHP-Hochburg an der Ägäis, kommen vermutlich | |
nur zwei Frauen für diese Partei ins Parlament. Selin Sayek Böke, die | |
einzige Kandidatin, der es gelang, einen vorderen Listenplatz zu ergattern, | |
wurde von ihrer Partei in einen unbedeutenden Wahlkreis aufgestellt. | |
Gülsüm Kav sieht die Gleichberechtigung, die überschwenglich in den | |
Wahlbroschüren der Parteien angekündigt werden, nur als heiße Luft: | |
„Inhalte, die Frauen betreffend, gibt es kaum. Alle Parteien sind schwach | |
aufgestellt und beziehen sich mehrheitlich auf die Familie. Nur die CHP und | |
die HDP machen Vorschläge zur Lösung frauenspezifischer Probleme. Sie | |
fordern zum Beispiel die Einrichtung eines Frauenministeriums, dass die | |
Vorschläge dann auch umsetzen kann.“ | |
## Die zweite Präsidentschaftskandidatin der Republik | |
Kav meint, es sei ein Auswuchs der männlich dominierten Regierungssprache, | |
dass die anderen Parteien keine ernsthaften Inhalte in Bezug auf Frauen | |
generieren. „Unter dieser Regierung werden Machoposen mit Politik | |
verwechselt und selbst die Kandidierenden der Opposition – und seien es | |
Frauen – aufgrund dieses Rowdytums machohaft reden. Dass die Politik zu | |
einer inhaltsleeren 'Pose’ verkommen ist, ist für die Gesellschaft | |
insgesamt ein Desaster.“ | |
Allerdings: Erstmals tritt seit vielen Jahren mit Meral Akşener eine Frau | |
als Präsidentschaftskandidatin an. Die Vorsitzende der IYI-Partei, ist nach | |
der Abgeordneten Gönül Saray Alphan, die im Jahr 2000 für die Demokratische | |
Linkspartei antrat, in der Geschichte der Republik erst die zweite | |
weibliche Präsidentschaftskandidatin überhaupt. 2014 wollte Emine Ülker | |
Tarhan von der CHP kandidieren, doch sie bekam die für eine Kandidatur | |
mindestens notwendigen 20 Unterschriften von Abgeordneten ihrer Partei | |
nicht. | |
Akşener hingegen hatte mit 126.000 bereits am ersten Tag und schneller als | |
ihre männlichen Rivalen mehr als die für eine Kandidatur landesweit | |
notwendigen hunderttausend Unterschriften zusammen. Auch wenn Akşener gegen | |
Erdoğan und İnce keine realistische Chance hat, werden die am 24. Juni zur | |
Wahl gehenden Wahlberechtigten nun wenigstens zum zweiten Mal in der | |
Geschichte des Landes den Namen einer Frau auf ihrem Wahlschein sehen. | |
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
20 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Burçin Tetik | |
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