# taz.de -- Femizide in Deutschland und Türkei: Frauenmorde benennen | |
> Frauenmorde werden in Deutschland als Beziehungstat abgetan. Anders in | |
> der Türkei: Dort werden patriarchale Strukturen hinter den Morden | |
> entlarvt. | |
Bild: Gülsüm Kav (Mitte) 2015 beim Protest nach dem Mord an der Studentin Öz… | |
„Nach allem, was wir bis jetzt wissen, handelt es sich um eine | |
Beziehungstat.“ Mit diesen Worten sah sich die „Tagesschau“ gezwungen, | |
[1][zu erklären, warum sie nicht über den Mord im südpfälzischen Kandel | |
berichtet hatte.] Dort hatte im Dezember 2017 ein afghanischer Geflüchteter | |
seine 15-jährige Exfreundin in einem Drogeriemarkt erstochen. | |
Beziehungstaten wird in Deutschland keine überregionale journalistische | |
Relevanz zugesprochen. Trotzdem wurde in Leitartikeln, Kommentaren und den | |
Sozialen Medien tagelang über den Fall diskutiert – weil der Tatverdächtige | |
keinen deutschen Pass hat. | |
Im Jahr 2016 wurden [2][laut der polizeilichen Kriminalstatistik in | |
Deutschland] 149 Frauen von ihrem Ehepartner oder Expartner umgebracht, 208 | |
Frauen überlebten einen Tötungsversuch. Das bedeutet, dass in Deutschland | |
im Schnitt fast jeden Tag ein Mann seine Frau oder ehemalige Partnerin | |
ermordet oder es versucht. Frauen, die von Männern getötet wurden, mit | |
denen sie nicht in einer Beziehung lebten – also etwa von einem Verwandten, | |
Bekannten oder einem Fremden, werden in dieser Zählung nicht erfasst. Die | |
weit überwiegende Mehrheit der Tatverdächtigen sind deutsche | |
Staatsangehörige. | |
Längst nicht alle dieser Frauenmorde landen in den Nachrichten. | |
Partnerschaftsgewalt bringt die Menschen in Deutschland nicht auf die | |
Straße, außer am 25. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von | |
Gewalt gegen Frauen. Gegen Frauenmorde wie die in Freiburg oder Kandel | |
protestieren rechtsextreme Aktivist*innen, die Gewalt gegen Frauen für ihre | |
Zwecke instrumentalisieren. Während in vielen lateinamerikanischen Ländern, | |
aber auch in Italien und der Türkei das Thema Frauenmorde von | |
Frauenorganisationen als genuin feministisches Thema begriffen wird, werden | |
sie in der deutschen Gesellschaft kaum problematisiert und politisiert. | |
Woran liegt das? | |
Morde an Frauen werden in Deutschland individualisiert. Wenn Medien darüber | |
berichten, steht in den Schlagzeilen oft „Eifersuchtsdrama“. Das | |
suggeriert, dass es sich um tragische Einzelfälle handelt, die nichts mit | |
strukturellen Machtverhältnissen zu tun haben. „Wenn der Tatverdächtige | |
deutschstämmig ist, ist die Rede von ‚Familientragödie‘, das Wort Mord | |
taucht nicht einmal auf“, sagt die Regisseurin Marlene Pardeller. Sie hat | |
die [3][Initiative Keinemehr] gegründet, inspiriert von der | |
Ni-Una-Menos-Bewegung (Nicht eine weniger), die ausgehend von Argentinien | |
seit 2015 in Lateinamerika und Europa gegen Frauenmord auf die Straße geht. | |
„Hinter dieser Sprache verschwindet die Tatsache, dass die Frau umgebracht | |
wurde, weil sie eine Frau ist. Dass es ein geschlechterbasierter Mord war“, | |
sagt sie. | |
Die Filmschaffende arbeitet seit fünf Jahren zu feministischen Bewegungen | |
in Italien und Mexiko. Dort hat sie zum ersten Mal den Begriff „Femizid“ | |
gehört und sich gewundert, warum sie ihn aus deutschen Zusammenhängen nicht | |
kennt. Der Begriff femicide wurde in den siebziger Jahren vor allem von der | |
Feministin Diana Russell geprägt. Er steht in Abgrenzung zum | |
geschlechtsneutralen homicide und soll die Tötung von Frauen als Konsequenz | |
patriarchaler Machtstrukturen sichtbar machen. | |
## „Das, was da passiert ist, ist ein Frauenmord“ | |
Die Muster, die hinter Frauenmorden stehen, sind in Deutschland die | |
gleichen wie überall auf der Welt: Die Frau stellt das Rollenverständnis | |
des Mannes infrage, indem sie sich trennen will oder auch nur mehr verdient | |
als ihr Partner. „Frauen sind dann bedroht, wenn sie selbstständiger | |
werden“, sagt Pardeller. | |
Eigentlich gebe es in Deutschland einen starken Diskurs über Gewalt gegen | |
Frauen, sagt die Sozialwissenschaftlerin Monika Schröttle von der TU | |
Dortmund. „Tötungsdelikte werden aber außen vor gelassen.“ Vonseiten der | |
Politik höre man oft, diese seien nur die Spitze des Eisberges, und das | |
stimme auch, sagt Schröttle. „Wenn wir uns aber die Motive ansehen, finden | |
wir immer die klassischen Muster: Frau will Mann verlassen oder hat ihn | |
schon verlassen und wird dann getötet. Eigentlich ist es ein | |
stockpatriarchalisches Muster, das dahintersteht.“ Das passt nicht ins Bild | |
des fortschrittlichen Deutschlands. Die vorherrschende Meinung ist: Bei uns | |
sind Frauen doch längst emanzipiert. | |
In der Türkei politisieren Aktivistinnen Frauenmorde schon seit Jahren. | |
Nach dem brutalen Mord an der 17-jährigen Schülerin Münevver Karabulut | |
gründete sich 2010 der [4][Verein Kadın cinayetlerini durduracağız | |
platformu (Wir werden die Frauenmorde stoppen)]. Der Fall erregte großes | |
Interesse. „Die Presse hat den Mord an Münevver auf die Panoramaseiten | |
gebracht“, sagt Gülsüm Kav, Vorsitzende der Plattform. „Das hat uns | |
gestört.“ Türkische Medien sprachen damals häufig von aşk cinayeti, dem | |
Liebesmord. Die Ärztin wollte sie als das benennen, was sie sind: „Das, was | |
da passiert ist, ist ein Frauenmord“, sagt Kav. | |
Die Aktivistinnen der Kadın cinayetlerini durduracağız platformu | |
organisierten Proteste, gingen jede Woche auf die Straße, begleiteten | |
Mordprozesse und hielten das Thema so auf der Tagesordnung. Dadurch wuchs | |
ein Bewusstsein dafür, dass Gewalt gegen Frauen ein Problem ist, das durch | |
die patriarchalen Geschlechterverhältnisse bedingt ist. „Inzwischen haben | |
alle Medien den Begriff ‚Frauenmord‘ übernommen“, sagt Kav. | |
## 2017 gab es in der Türkei 409 Morde an Frauen | |
Die Türkei hat mit knapp 80 Millionen etwa genauso viele Einwohner*innen | |
wie Deutschland. Im Jahr 2016 wurden dort der inoffiziellen Statistik des | |
Vereins zufolge 328 Frauen umgebracht; im Jahr 2017 gab es 409 Morde an | |
Frauen. Diese Zahlen sind jedoch nicht belastbar: Das Ministerium für | |
Familie und Sozialpolitik gibt keine offiziellen Statistiken zu | |
Frauenmorden heraus, die Angaben des Vereins stützen sich deshalb auf die | |
Fälle, die in den türkischen Medien auftauchten. Die Dunkelziffer dürfte | |
höher liegen. | |
Die hohe Zahl an Frauenmorden führt die Frauenrechtlerin Gülsüm Kav unter | |
anderem auf einen Backlash als Reaktion auf den gesellschaftlichen Wandel | |
in der Türkei zurück. „In den letzten 30 Jahren sind die Menschen vom Land | |
in die Stadt gezogen, sie haben Zugang zum Fernsehen und zum Internet | |
bekommen“, sagt sie. Dies verändere die Position der Frauen in der | |
Gesellschaft, „Frauen fordern ihre Rechte stärker ein. Sie haben zum | |
Beispiel auf einmal den Mut, sich scheiden zu lassen. Die Männer geben den | |
Frauen diese Rechte aber nicht einfach so, sondern versuchen, die | |
Forderungen der Frauen nach Selbstbestimmung mit Gewalt zu unterdrücken.“ | |
Zugleich seien in der Türkei wie auch in anderen Ländern der | |
Mittelmeerregion patriarchale Strukturen tief verwurzelt. Gülsüm Kav nennt | |
sie „eine historische Last, die wir mit uns herumtragen“. Frauenmorde habe | |
es im Zuge dieses gesellschaftlichen Wandels zwar unabhängig von der | |
jeweiligen Regierung gegeben. „Wenn zu den patriarchalischen Strukturen nun | |
aber eine Regierung hinzukommt, in deren Augen Frauen nicht | |
gleichberechtigt sind und die keine Maßnahmen umsetzt, um Frauen zu | |
schützen, steigt die geschlechterbasierte Gewalt“, erklärt sie. | |
Monika Schröttle hat beobachtet, dass Feministinnen in Ländern wie der | |
Türkei oder Mexiko die Tötung von Frauen anders als in Deutschland als ein | |
Problem ihrer eigenen Kultur betrachten. In Deutschland nehme man | |
Frauenmorde eher als individuelle Taten von gestörten „Ausnahmemännern“ | |
wahr, die nicht in Zusammenhang mit der Kultur stehen, in der sie leben. | |
„Wenn Frauen mit Migrationshintergrund getötet werden, wird das sofort mit | |
der vermeintlich anderen Kultur in Zusammenhang gebracht“, sagt Schröttle. | |
„Die töten ihre Frauen, die sind patriarchalisch und archaisch. Kultur ist | |
meist nur die Kultur von anderen.“ | |
Dabei, so betont sie, sei das Archaisch-Patriarchalische ebenso | |
eingeschrieben in unsere Kultur und auch als Motiv in Literatur und Musik | |
zu finden: Sie darf nicht gehen, sie gehört mir. Die Frauenmorde, hält | |
Schröttle fest, müssen in Zusammenhang gebracht werden mit einer männlich | |
dominanten Sicht auf Besitzverhältnisse in den Geschlechterbeziehungen. | |
„Das sollte uns schockieren; das sollten wir skandalisieren.“ | |
8 Mar 2018 | |
## LINKS | |
[1] http://blog.tagesschau.de/2017/12/28/kandel-wie-die-tagesschau-damit-umgeht/ | |
[2] https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndL… | |
[3] https://keinemehr.wordpress.com/ | |
[4] http://kadincinayetlerinidurduracagiz.net/veriler/2845/kadin-cinayetlerini-… | |
## AUTOREN | |
Elisabeth Kimmerle | |
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