# taz.de -- Feministische Uni-Besetzungen in Chile: Für Bildung ohne Sexismus | |
> Unermüdlich fordern Studierende in Chile das Ende sexualisierter | |
> Übergriffe. Die Besetzungen sind zu einer nationalen Bewegung geworden. | |
Bild: Santiago de Chile, Anfang Juni: Kundgebung für Frauenrechte | |
Santiago/Concepción taz | Sofía Brito hätte nie gedacht, dass sie eine | |
nationale feministische Bewegung auslösen würde. Die 24-Jährige studiert | |
Jura an der Universidad de Chile, der größten Universität des | |
südamerikanischen Landes in der Hauptstadt Santiago. Sie sitzt vor dem | |
großen steinernen Gebäude der rechtswissenschaftlichen Fakultät. | |
„Schwester, ich glaube dir“, verkündet ein großes Plakat hinter ihr. Der | |
Eingang des Gebäudes ist mit übereinandergestapelten Stühlen versperrt, die | |
Fakultät befindet sich in „toma feminista“ – feministischer Besetzung. | |
Brito hat lockiges Haar und einen ernsten Blick. Sie sieht erschöpft aus | |
und lächelt kaum; zu oft musste sie ihre Geschichte schon erzählen. | |
Die chilenischen Zeitungen haben sie medial zerfleischt. Die Sensationsgier | |
war groß, denn es ging um den ehemaligen Präsidenten des chilenischen | |
Verfassungsgerichts, für den Brito drei Jahre als wissenschaftliche | |
Assistentin arbeitete. Sie wurde in den Medien oft als unglaubwürdig | |
dargestellt und möchte deshalb nicht mehr über die Details sprechen. | |
In einer feministischen Radiosendung erzählte Brito ihre Version der | |
Geschichte: Carlos Carmona habe ihr an den Hintern gefasst, angeblich, um | |
sie auf einen Schokoladenfleck aufmerksam zu machen. „Einmal bin ich nach | |
einem langen Arbeitstag auf einem Sessel in seinem Büro eingeschlafen und | |
als ich aufgewachte, war er über mir und streichelte mein Gesicht“, sagte | |
sie im Radio. Als sie ihn auf die Grenzüberschreitung hingewiesen habe, | |
habe er gesagt, er könne nicht mit ihr arbeiten, wenn sie Grenzen setze. | |
Vor fast einem Jahr zeigte Brito den Fall an, aber die Universität | |
reagierte nicht. Deshalb stimmten 550 Student*innen am 27. April in einer | |
Versammlung für die feministische Besetzung der Fakultät. Mittlerweile | |
wurde Carmona für drei Monate suspendiert, allerdings nicht wegen sexueller | |
Belästigung. Die Student*innen fordern seine Entlassung. | |
## Bisher mehr Schaden als Nutzen | |
Bei der Besetzung gehe es nicht um ihren Fall – das ist Brito wichtig. Es | |
gehe um den strukturellen Sexismus an chilenischen Universitäten. „Mein | |
Fall ist keine Ausnahme, er brachte nur das Fass zum Überlaufen“, sagt | |
Brito. „Die chilenischen Universitäten reagieren nicht auf die Probleme und | |
Situationen, die wir als Frauen erleben.“ Brito verlagerte ihren | |
Studienschwerpunkt von öffentlichem Recht auf Arbeitsrecht, um Carmona aus | |
dem Weg zu gehen. Weil es keine verbindlichen Regeln der Universitäten zum | |
Schutz von Opfern gibt, seien es letztendlich die Student*innen statt die | |
Täter, die Bildungseinrichtungen verlassen müssen. „Die männlichen | |
Professoren vermitteln uns, dass körperliche Gefälligkeiten die einzige | |
Möglichkeit sind, um Erfolg in unseren Karrieren zu haben“, sagt Brito. | |
Mit dem Fall an die Öffentlichkeit zu gehen habe ihr bisher mehr Schaden | |
als Nutzen gebracht. Sie wurde als unglaubwürdig bezeichnet, ihr Erlebnis | |
als eigentlich nicht so schlimm dargestellt. Aber sie wolle für alle die | |
sprechen, die es bisher nicht selbst konnten. „Es geht hier nicht nur um | |
uns Student*innen, sondern um alle Frauen. Ich glaube, dass wir einen | |
historischen Moment als feministische Bewegung erleben“, sagt Brito. „Wir | |
haben die Augen geöffnet und gemerkt, dass die Gewalt, die wir erleben, | |
nicht natürlich und normal ist. Und das wird zu einem radikalen Wandel | |
führen.“ | |
Mittlerweile sind über 20 Universitäten in ganz Chile besetzt oder werden | |
bestreikt. Auch Schulen haben sich der Bewegung angeschlossen. Seit Jahren | |
gibt es eine starke Bewegung gegen Frauenmorde und sexualisierte Gewalt, | |
bekannt als „Ni Una Menos“ (Nicht eine weniger). Auch die MeToo-Debatte ist | |
nach Chile übergeschwappt. Experten sprechen von der größten feministischen | |
Bewegung im Land seit dem Ende der Militärdiktatur 1990. | |
Silvia Lamadrid ist Professorin an der Universidad de Chile, wo sie einen | |
Kurs in Geschlechtersoziologie gibt. „Die Student*innenbewegung hat in | |
Chile die sozialen Bewegungen wieder aufgeweckt“, sagt sie. Das chilenische | |
Bildungssystem sei das von Pinochet: „Extrem konservativ und autoritär.“ | |
Die patriarchalen Strukturen zeigten sich schon in der Erziehung durch die | |
Eltern und würden dann durch Kindergarten, Schule und Universität noch | |
verstärkt, sagt die Soziologin. So seien an vielen Schulen die Geschlechter | |
getrennt und in Bildungstests würden Mädchen benachteiligt. „Die | |
Studentinnen brauchen die Besetzungen. Sie brauchen diesen Raum, um ihre | |
Probleme als Frauen zu besprechen.“ | |
## „Wie ein Schneeballeffekt“ | |
Um die Ursachen von Diskriminierung geht es auch bei einem ersten | |
nationalen Treffen von Student*innen Anfang Juni in Concepción, etwa 600 | |
Kilometer südlich von Santiago. Es ist kalt und regnet in Strömen. Mehr als | |
750 Frauen sind aus verschiedenen Städten des Landes angereist. Sie treffen | |
sich in der Turnhalle der Universidad del Bío-Bío. Eine der | |
Organisator*innen sagt die Namen der Arbeitsgruppen durch ein Mikrofon an – | |
die Student*innen wollen nicht nur über das Bildungssystem sprechen, | |
sondern über Diskriminierung von Frauen in allen Lebensbereichen. „Sexuelle | |
und reproduktive Rechte, Prekarisierung in der Arbeitswelt, sexualisierte | |
Gewalt, patriarchale Justiz“, schallt es durch die Lautsprecher. Es waren | |
die Universitätsbesetzungen, die nun zu diesem Treffen geführt haben. Die | |
Student*innen der verschiedenen Unis wollen sich national vernetzen, um in | |
Zukunft besser zusammenarbeiten zu können und gemeinsame politische | |
Forderungen zu erarbeiten. | |
Am Nachmittag hilft die 23-jährige Consuelo Sarmiento, das Schlaflager in | |
einem der Vorlesungssäle auszubreiten. Sarmiento studiert Journalismus an | |
der Universidad Austral in Valdivia im Süden Chiles. Die junge Frau mit dem | |
glatten, dunklen Haar trägt eine dicke Jacke, um sich vor der Kälte zu | |
schützen. Ihre Universität war die erste, die besetzt wurde. „In Chile gibt | |
es einen starken Zentralismus und alles dreht sich um Santiago“, sagt sie. | |
„Wir im Süden werden meistens vergessen.“ Deshalb sei es wichtig, dass das | |
nationale Treffen nicht in Santiago stattfinde. An ihrer Universität sei | |
zuerst die humanwissenschaftliche Fakultät besetzt worden – „weil eine | |
Studentin von einem Kommilitonen missbraucht wurde“. Dazu kam der Fall des | |
Professors Alejandro Yáñez, der eine Mitarbeiterin der Universität sexuell | |
missbraucht hatte. | |
So habe die Bewegung angefangen, sich gegen alle Formen von | |
Geschlechtergewalt aufzulehnen, erzählt die Studentin. „Es war wie ein | |
Schneeballeffekt: Immer mehr Fälle kamen ans Licht“, sagt Sarmiento. „Wir | |
haben die Fakultäten besetzt, Forderungen aufgestellt. Jetzt sind wir eine | |
einflussreiche soziale Bewegung.“ Noch nie sei in den Medien so oft das | |
Wort „Feminismus“ gefallen. „Darauf bin ich stolz.“ | |
## Freie Oberkörper, maskierte Gesichter | |
Am 16. Mai findet die erste landesweite Demonstration für eine Bildung ohne | |
Sexismus statt, am 6. Juni eine zweite. In allen großen Städten Chiles | |
gehen an diesen Tagen Student*innen und Schüler*innen auf die Straße. In | |
der Hauptstadt Santiago treffen sich die Demonstrant*innen traditionell im | |
Zentrum am Plaza Italia. Trommelnd, singend und tanzend marschieren sie die | |
Hauptstraße Alameda entlang. „Nein heißt nein“, rufen sie, und: „Wir we… | |
das Patriarchat stürzen“. Auf einem Plakat steht: „Machos werden nicht | |
geboren, die chilenische Bildung macht sie dazu“. Viele Student*innen | |
protestieren mit freiem Oberkörper und bunt bemalt, die Gesichter mit | |
Wollmützen maskiert. | |
Kurz hinter dem Regierungspalast La Moneda, auf Höhe der Metro-Station | |
República, kommt der Protestzug ins Stocken. Ein paar Demonstrant*innen | |
werfen Steine auf die Polizist*innen, diese reagieren mit Tränengas und | |
Wasserwerfern. 76 Personen werden festgenommen, 56 davon sind Männer. | |
Die Universitäten bleiben vorerst besetzt. Nach 46 Tagen Streik kündigt | |
Davor Harasic, der Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der | |
Universidad de Chile, am 11. Juni seinen Rücktritt an. Die Student*innen | |
würden die akademische Qualität der Universität beschädigen, begründet | |
Harasic seine Entscheidung. „Er hat nicht verstanden, dass unsere Forderung | |
nach einer Bildung ohne Sexismus eben gerade die akademische Qualität der | |
Universität verbessern soll“, sagt Sofía Brito in einer Pressekonferenz der | |
Student*innen vor der besetzten Universität. In den kommenden Wochen wollen | |
sie der Universität eine Liste mit Forderungen vorlegen, um mit den | |
Verhandlungen zu beginnen. | |
17 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Sophia Boddenberg | |
## TAGS | |
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