# taz.de -- Proteste in Belarus: „Ich dachte, sie töten ihn“ | |
> Bis vor Kurzem spielte Politik in der belarusischen Heimatstadt unserer | |
> Autorin keine große Rolle. Jetzt gehen auch dort viele auf die Straße. | |
Bild: Eine Frau wartet vor einem Minsker Gefängnis, in dem Demonstranten sitzen | |
BOBRUISK taz | Die Tragödie, die sich dieser Tage in Belarus abspielt, | |
lässt sich wohl am deutlichsten in der Provinz beobachten. In meiner | |
Heimatstadt Bobruisk, die knapp über 200.000 Einwohner hat, war die | |
Stimmung bis vor Kurzem so wie in vielen anderen kleinen Städten: Das Leben | |
plätscherte ruhig und gleichmäßig vor sich hin, jeder Tag war gleich. Fast | |
alles Politische in der Stadt war mit einer kleinen Gruppe demokratischer | |
Aktivist*innen verbunden, die systematisch festgenommen und dafür | |
verurteilt wurden, dass sie die undemokratischen Gegebenheiten ablehnten. | |
Derartige Vorfälle beeinträchtigten den Alltag der einfachen | |
Stadtbewohner*innen nicht, sie regten nicht weiter auf. | |
Auch am 9. August, dem Tag der Präsidentenwahl, schien es so, als könne | |
nichts das System erschüttern. Ein freier Tag, die gewöhnliche Routine. | |
Spaziergänge mit den Kindern, eine Runde durch die Geschäfte, eine | |
Verschnaufpause auf einer der Bänke rund um den Brunnen auf dem zentralen | |
Platz. | |
Die vergitterten Mannschaftswagen der Polizei, die Militärtechnik, die | |
Krankenwagen sowie die vielen Mitarbeiter der OMON [Sondereinheit der | |
Polizei, die vor allem gegen Demonstrant*innen eingesetzt wird; | |
Anmerkung der Redaktion], die sich auf den Platz zubewegten, wirkten vor | |
diesem Hintergrund geradezu unwirklich. Die Menschen in Bobruisk ahnten zu | |
diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ihr Leben schon bald nicht mehr in | |
gewohnten Bahnen verlaufen würde. | |
Nachts begannen die Festnahmen. Brutale Sicherheitskräfte in voller Montur | |
trieben Menschen in Höfe. Dort prügelten sie im Schutz der Dunkelheit auf | |
ihre Opfer ein und zerrten sie zu den Mannschaftswagen. Die Festgenommenen | |
konnten nicht verstehen, was vor sich ging und warum sie so behandelt | |
wurden. | |
## Mütter warten vor dem Gefängnis auf ihre Kinder | |
Von den Ereignissen jener Nacht erfuhr ich erst am nächsten Tag. Ich war | |
mit meinem Mann beim Untersuchungsgefängnis. Dort wollten wir etwas über | |
das Schicksal einer Freundin erfahren, die in Bobruisk unabhängige | |
Wahlbeobachter*innen koordiniert hatte. Sie war am Vorabend der Wahl | |
festgenommen und zu zwei Tagen Arrest verurteilt worden. Die Verurteilung | |
erfolgte nicht im Gerichtssaal, wo jeder an der Verhandlung hätte | |
teilnehmen können, sondern im Gefängnis, hinter verschlossenen Türen, ohne | |
Zeugen. | |
Vor dem Untersuchungsgefängnis hatten sich viele Menschen eingefunden – vor | |
allem Frauen, deren Kinder auf dem zentralen Platz festgenommen worden | |
waren. Alle waren verurteilt, einige wieder freigelassen und mit einer | |
Strafe belegt worden. Eine Frau, die ebenfalls wieder freigekommen war, bat | |
mich, ihr ein Taxi zu rufen. Die Hälfte ihres Gesichts schillerte | |
blau-violett, ein Auge konnte sie kaum öffnen, ihr Kiefer war ganz | |
geschwollen. Sie erzählte, dass sie auf dem Heimweg über den Platz gegangen | |
sei. Plötzlich hätten Unbekannte in Zivil sich auf sie gestürzt, sie zu | |
Boden geworfen und in einen Mannschaftswagen gestoßen. Sie wollte sich | |
jetzt, nach ihrer Freilassung, einfach nur Zigaretten kaufen und nach Hause | |
gehen. Ich glaube, sie stand immer noch unter Schock. | |
Nach diesem Gespräch musste ich mich hinsetzen und durchatmen. Ich konnte | |
die geballte Ungerechtigkeit nicht fassen. Ich setzte mich zu ein paar | |
Bekannten ins Auto. | |
Das Internet war in ganz Belarus schon seit zwei Tagen blockiert. Das | |
einzig Positive daran war, dass die Menschen offline wieder mehr | |
miteinander redeten. Meine Bekannten und ich waren so sehr in unser | |
Gespräch vertieft, dass uns das, was außerhalb des Autos passierte, kalt | |
erwischte. | |
Plötzlich waren wir von Menschen umringt, die schwarze Uniformen und | |
Sturmhauben trugen. Ein Lokalreporter, der gerade noch neben unserem Auto | |
gestanden und mit jemandem geredet hatte, wurde zu Boden geworfen, seine | |
Arme wurden hinter dem Rücken gefesselt. Ich sprang aus dem Auto und | |
versuchte, irgendwo meinen Mann zu entdecken. In diesem Moment schlugen | |
diese Menschen in Schwarz mit Gummiknüppeln auf seine Beine ein und | |
schleiften ihn über die Straße. Er widersetzte sich nicht. | |
Ich lief hinterher, so als hätte ich eine Eingebung. Sofort wurde ich von | |
groben und kräftigen Hände gepackt, die mich in die entgegengesetzte | |
Richtung zerrten. Ich schrie. Vor meinen Augen wurden mein Mann und andere | |
Männer, die vor dem Untersuchungsgefängnis ruhig auf Neuigkeiten gewartet | |
hatten, gezwungen, sich mit dem Gesicht zur Wand zu stellen, wie bei einer | |
Erschießung. Ich dachte: Sie töten ihn. | |
Als sie mich endlich gehen ließen, zog ich mich zurück und beobachtete: | |
Blaue Busse blockierten die Straße. Um sie herum waren unglaublich viele | |
Personen mit Sturmhauben, denen hochgewachsene, kräftige Männer zu Hilfe | |
eilten. Es sah so aus, als zögen sie in den Krieg. Einen Krieg gegen ihre | |
eigenen Landsleute. | |
Die Festgenommenen wurden wie Schwerverbrecher behandelt. Im Konvoi, | |
gebückt und die Hände hinter dem Kopf, wurden sie zu den blauen Bussen | |
geführt. Sicherheitskräfte bedrängten sie von allen Seiten. Frauen, die | |
sich vor wenigen Minuten noch nicht gekannt hatten, fielen sich weinend in | |
die Arme. | |
## In ihren Augen war nichts als Hass | |
Wegen des Lärms kamen Bewohner*innen der umliegenden Häuser dazu. Als ich | |
zu denjenigen laufen wollte, die meinen Mann abgeführt hatten, hielt mich | |
eine Frau auf. Sie sagte: „Mädchen, geh nicht dorthin, sie werden dich zum | |
Krüppel schlagen.“ | |
Ihre Worte ernüchterten mich. Ja, ich habe Kinder, denen gerade der Vater | |
entrissen worden war, und es war unklar, wann sie ihn wiedersehen würden. | |
Sie brauchen mich, heil und gesund. | |
Als sich die Türen der blauen Busse schlossen, konnte ich meinen Man hinter | |
der Scheibe nicht ausmachen. Aber ich blickte in die Augen derer, die ihn | |
mir weggenommen hatten. Dort war nichts als blanker Hass zu lesen. | |
Um etwas über das Schicksal der Festgenommenen zu erfahren, musste ich zur | |
Polizei. Der Weg dorthin führte über den zentralen Platz. Ich passierte ihn | |
mit klopfendem Herzen. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich auf dem | |
Polizeirevier umbringen würden. Gleichzeitig tickte die Stadt in ihrem | |
üblichen Takt. Familien hatten ihren Spaziergang beendet – nur zehn Meter | |
von der Polizei entfernt, wo die Mannschaftswagen standen. | |
## „Lang lebe Belarus!“ | |
Das Gebäude war von Militärs umstellt. Ich fragte einen Mann mit einer | |
Waffe vor der Brust, ob ich wenigstens anrufen dürfe. Er wählte die Nummer, | |
aber über meinen Mann erfuhr ich nichts. Am nächsten Tag wurde er hinter | |
geschlossenen Türen zu zwölf Tagen Arrest verurteilt. Kurz darauf wollten | |
sie meinem Mann noch etwas anhängen: Am Donnerstag haben sie unser Haus | |
durchsucht und alle Computer mitgenommen. Ich fühlte mich wie tot. | |
Und dennoch, das Regime von Präsident Alexander Lukaschenko, der behauptet, | |
die Wahl gewonnen zu haben, hängt an zwei dünnen Fäden: Angst und Hass. Es | |
ist die Angst von Lukaschenkos Untergebenen, für ihre Verbrechen rechtlich | |
belangt zu werden, wenn das Regime stürzt. Und es ist ihr Hass auf all | |
jene, die Freiheit wollen. Denn wären wir frei, würden Lukaschenkos | |
Handlanger ihre Posten verlieren, von denen aus sie leicht und ungestraft | |
ihrem gesetzlosen Treiben nachgehen können. | |
Früher oder später werden diese Fäden reißen. Und dann werden die | |
Belaruss*innen rufen: „Lang lebe Belarus!“ – ohne befürchten zu müssen, | |
mit Schlagstöcken verprügelt und in einen Mannschaftswagen geworfen zu | |
werden. | |
Unser Leben wird nie wieder so sein wie vorher. Wir werden uns auf den Weg | |
in Richtung Demokratie machen. Daran glaube ich! | |
Aus dem Russischen von Barbara Oertel | |
Die Autorin hat im November 2019 an einem Osteuropa-Workshop der taz Panter | |
Stiftung in Berlin teilgenommen. | |
15 Aug 2020 | |
## AUTOREN | |
Alexandrina Glagoljewa | |
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