# taz.de -- Kunst im Frauenladen Paula Weißensee: „Den Mut zur Farbe kann ma… | |
> In ihrer aktuellen Ausstellung gibt Gisela Stiller Einblicke in die Werke | |
> der letzten zwanzig Jahre – und schaut auf ihr 92-jähriges Leben zurück. | |
Bild: „Nie aufhören“ sagt Gisela Stiller und meint damit eigentlich nicht … | |
BERLIN taz | Gisela Stiller ist mit dem Fahrrad zum Frauenladen Paula | |
Weißensee gekommen. 92 Jahre alt ist sie dieses Jahr geworden. Nun sitzt | |
sie vor einem kleinen Tisch in dem hellen Raum, den man direkt durch die | |
Eingangstür betritt. Sie sieht sehr adrett aus, wie man es in ihrer | |
Generation wohl nennen würde: hellblauer Rock mit passendem Blazer, | |
darunter eine kurzärmlige blau-weiß gestreifte Bluse mit Blumenaufdruck und | |
passende Sandalen. | |
Stiller stellt in dem Frauenladen – ein Kiezprojekt des Frauenzentrum Paula | |
Panke e. V. – ihre Kunst aus. An den Wänden hängen Ölgemälde, eher | |
kleineren Formats, welche meist die Natur zum zentralen Thema haben: | |
sumpfige Landschaften, abstrakte Blumenbeete oder ein Weg, von kahlen | |
Bäumen gesäumt. Aus ihren Bildern spricht eine friedvolle Ernsthaftigkeit, | |
die Farben leuchten in dunklen, kräftigen Tönen. In einem kleineren Raum, | |
der sich anschließt, hängen fünf Aktzeichnungen und zwei Collagen. Auch ein | |
Selbstporträt ist dabei: Gisela Stiller in einem blauen, hochgeschlossenen | |
Pullover, den kritischen Blick leicht erhobenen Kinns zum Betrachter | |
gerichtet. | |
„Mit der Kunst fing es an, da war ich noch ziemlich klein“, beginnt Stiller | |
zu erzählen. Ihr Vater, ein Architekt aus Nordhausen in Thüringen, drückte | |
ihr Bleistift und Papier in die Hand, wann immer sie während seiner | |
Arbeitszeit ungeduldig wurde. Und so standen sie nebeneinander: Er | |
zeichnete seine Entwürfe, sie Hexenhäuschen – „und manchmal natürlich au… | |
eine kleine Hexe dazu“, sagt Stiller schmunzelnd. Sie träumte davon, | |
ebenfalls Architektin zu werden. | |
Doch dann kam der Krieg, da war Stiller elf Jahre alt. Ihr Vater wurde | |
Soldat. Das sei für sie und ihre Geschwister ein großer Schock gewesen. Die | |
Mutter arbeitete viel und Stiller wurde früh selbstständig. Heute sagt sie: | |
„Ohne den Zweiten Weltkrieg wäre mein Leben wohl ganz anders verlaufen.“ | |
Anders, also: eine Karriere als Architektin, wie sie es geplant hatte. | |
## Hauptsache etwas Kreatives | |
Doch eine akademische Bildungsbiografie war im Ostdeutschland der | |
Nachkriegszeit für sie, eine Tochter aus bürgerlichen Verhältnissen, nicht | |
vorgesehen. Bei der Studienplatzvergabe wurden Kinder aus | |
„Arbeiterfamilien“ bevorzugt. Also absolvierte sie eine Lehre zur | |
Buchbinderin. „Hauptsache, etwas Kreatives lernen.“ Später konnte sie, als | |
eine von vier Frauen ihres 32-köpfigen Jahrgangs, die Fachschule für | |
Polygraphie in Leipzig besuchen und arbeitete viele Jahre in leitenden | |
Funktionen in der grafischen Industrie. | |
Stiller ist in jeder Hinsicht eine emanzipierte Frau, deren Lebenslauf | |
nicht dem Muster ihrer Generation entspricht. Geprägt durch die notwendige | |
Selbstständigkeit in ihrer Kindheit und Jugend hat sie stets für eigenes | |
Einkommen gesorgt, sich hochgearbeitet, ist mitunter Pfade auf ihr | |
unbekannten Wegen gegangen – wie 1960, als sie sich beruflich gänzlich | |
anderen Inhalten zuwandte und mit einer befreundeten Ärztin ein kommunales | |
Rehabilitationszentrum zur Integration behinderter Menschen in | |
Wirtschaftsbetrieben aufbaute. Anfangs waren es drei Personen, die dort | |
zeitgleich lernten, schließlich 150. „Darauf“, sagt sie, „bin ich heute | |
noch wirklich stolz.“ | |
Stiller – eine Frau, die ihrer Zeit stets voraus gewesen ist. Vor dem | |
Hintergrund ihrer Biografie ist eine Ausstellung im Frauenladen Paula | |
Weißensee besonders passend. Er gehört zum Paula Panke e. V., der kurz nach | |
der Wende in Pankow gegründet wurde, als die fortschrittliche | |
gesellschaftliche Stellung der Frau in der DDR durch die Wiedervereinigung | |
bedroht schien. Der Verein ist sozialer Treffpunkt sowie Beratungsstelle | |
und organisiert und fördert soziokulturelle Projekte von Frauen. „Gisela | |
ist für viele Frauen, die zu uns kommen, mit ihrem selbstbewussten und | |
lebensbejahenden Wesen ein Vorbild“, sagt Christine Stenzel-Anhalt vom | |
Frauenladen Paula. | |
Die Kunst war in ihrem bewegten, vielseitigen, bisweilen auch fordernden | |
Leben für Stiller jedoch nie bloß eine Statistin am Rande der großen Bühne. | |
Die Analogie von Malerei und Wesen Stillers zeigt vielmehr, dass die Kunst | |
als Ausdruck ihrer Kreativität, ihres wachen Geistes, ihrer Haltung, ja, | |
ihres Blicks auf die Welt seit jeher fester Bestandteil ihrer Identität | |
ist. | |
## An Farbe lange nicht rangetraut | |
Mit ihrem Renteneintritt 1988 wusste sie, dass sie sich fortan vollständig | |
der Kunst widmen wollte. Dabei standen zunächst Skizzen im Vordergrund | |
ihres Schaffens. „An die Farbe habe ich mich lange nicht rangetraut“, sagt | |
sie. „Aber man kann den Mut zur Farbe lernen.“ Ihr halfen dabei Michael | |
Kain und Achim Niemann, „meine Mentoren“. | |
Die beiden Künstler lernte sie im Jahr 2003 kennen, als sie nach Berlin zog | |
und einen Sommerkurs der beiden besuchte. Sie waren es auch, die mit | |
Niemanns Partnerin, Dr. Helga Adler, die Ausstellung für Stiller | |
organisierten. Adler hat selbst viele Jahre beim Paula Panke e. V. | |
gearbeitet. Sie sagt: „Ich finde die Bilder von Gisela einfach toll und | |
finde, sie sind es wert, gezeigt zu werden.“ | |
Dem stimmt auch Michael Kain zu: „Sie ist eine Bereicherung für jeden Kurs, | |
das kann man schon so sagen. Viele ältere Menschen, die zu mir kommen, | |
sehen die Malerei als Beschäftigung, als Zeitvertreib.“ Gisela Stiller aber | |
gehe mit einer großen Ernsthaftigkeit daran und sei bereit, Kritik | |
anzunehmen. | |
Niemann ergänzt: „Sie setzt aber auch nicht alles um, was wir ihr raten. | |
Sie hat ihren eigenen Kopf, ist sehr eigenständig.“ Vor allem aber versuche | |
sie niemals, jemanden nachzuahmen. | |
## Auf Studienreise immer dabei | |
Wenn Niemann und Kain mit ihren Kursen kleine Studienreisen unternehmen, | |
kommt Stiller mit – auch, wenn es auf den Zeltplatz geht. „Dann bucht sie | |
sich einfach ein Hotel in der Nähe“, erzählt Kain. | |
Stiller lacht. Über ihre Zeit vor und nach 1988 sagt sie: „Ja, das erste | |
Leben war erfolgreich und das zweite ist es auch.“ | |
Ihr Rat aus bald hundert Jahren Lebenserfahrung lautet: „Nie aufhören.“ – | |
Im Sinne von nie aufgeben? „Nein, das ist zu abstrakt“, sagt sie. Es gehe | |
vielmehr darum, immer weiterzumachen, niemals stillzustehen: „Ich kann die | |
Nähmaschine noch bedienen, also nähe ich noch. Ich kann noch Fahrradfahren, | |
also fahre ich noch. Und: Ich kann noch malen. Also male ich noch.“ | |
15 Aug 2020 | |
## AUTOREN | |
Anna Kühne | |
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