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# taz.de -- Tourismus in Berlin zur Coronazeit: Nichts ist normal
> Berlin scheint voll, doch die Touristen aus dem Ausland fehlen weiterhin.
> Jedem zweiten Unternehmen, so die Befürchtung, droht die Pleite.
Bild: Gesittetes Cornern in der Oderberger Straße
Berlin ist voll und feiert Party. Den Eindruck hat dieser Tage, wer durch
die Straßen von Prenzlauer Berg oder Neukölln schlendert oder sich an den
Spreeufern in Mitte aufhält. Die Liegewiesen sind bevölkert, die Cafés
ebenfalls, und abends wird gecornert. Sind die Touristinnen und Touristen
zurück in der Stadt? Werden die Koffer wieder ausgepackt in Berlin?
Dass der Eindruck nicht unbedingt mit den Zahlen übereinstimmt, belegt
Burkhard Kieker. Der Chef von VisitBerlin hat in dieser Woche eine erste
Zwischenbilanz der Coronasaison gezogen. „Wir sind derzeit bei 30 bis 40
Prozent im Vergleich zum Vorjahr“, sagte Kieker am Montag der dpa. Dieses
Niveau bei den Gästezahlen erwarte er auch für die zweite Jahreshälfte.
Zuvor hatte das Amt für Statistik die Halbjahreszahlen veröffentlicht. So
kamen von Januar bis Juli nicht einmal halb so viele Besucherinnen und
Besucher nach Berlin wie im Vorjahreszeitraum. Insgesamt waren es 2,7
Millionen Gäste, ein Minus von 59 Prozent. So schlecht waren die Zahlen
zuletzt 2004. Bei ausländischen Gästen war der Rückgang noch stärker: Zwei
Drittel blieben weg.
Zu den Betroffenen des Tourismuseinbruchs gehört auch Jörg Schöpfel. Im Mai
hatte er ein Transparent an sein geschlossenes Hostel gehängt. „Tolle Idee,
lieber Senat“ stand darauf. „Dichtmachen und dann Miete kassieren wollen.“
Der Grund für den Protest: Vermieter des Hostels EastSeven in der Schwedter
Straße ist die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Gewobag. Und die wollte
die Miete nur stunden, nicht aber erlassen. „Inzwischen stehen wir mit der
Gewobag in intensiven Verhandlungen. Da sind wir auf einem guten Weg“, sagt
Schöpfel drei Monate später.
Auf keinem guten Weg ist sein Hostel. „Seitdem wir vor zweieinhalb Monaten
wieder starten konnten, haben wir eine Art Dauernotstandsregelbetrieb“,
scherzt er. Die Auslastung liege bei 25 Prozent des Schnitts der Vorjahre.
„Uns fehlen alle, die derzeit nicht nach Berlin kommen können, also
Amerikaner, Australier, Asiaten.“
Schöpfel erinnert sich noch gut daran, wie er und sein Geschäftspartner am
25. Mai wieder geöffnet haben: „Wir haben 12 Zimmer aufgemacht und jedem
Zimmer ein Badezimmer zugeordnet. Damals hieß es ja noch, dass
Gemeinschaftsbäder nicht zulässig sind. Aber ein konkretes Schreiben der
Senatsverwaltung, wie genau die Hygienekonzepte für welche Betriebe
aussehen müssen, gab es nicht.“
Bis heute hat Schöpfel von der Gesundheitsverwaltung keine Handreichung
bekommen. „Dabei wäre es hilfreich, wie man etwa mit der Maßgabe umgeht,
dass jetzt wieder sechs Parteien ohne Abstand an einem Tisch sitzen
dürfen.“ Also hat er sein eigenes Hygienekonzept entwickelt. „Jeder Gast
muss an der Rezeption unterschreiben, dass er die Regeln einhält, etwa auf
den Gemeinschaftsflächen Masken zu tragen. Wir machen unser Möglichstes,
sehen aber auch die Gäste, die erwachsen sind. Wir müssen nicht vor jeder
Toilette einen Wachmann aufstellen.“
Schöpfel hofft, dass er wenigstens ohne Schulden aus der Saison kommt.
„Unser eigener Stundenlohn beträgt in diesem Jahr null Euro“, sagt er.
Thomas Lengfelder kennt Beispiele wie diese. „Die Lage ist weiter
katastrophal. Die Hotels hatten im Juli eine Auslastung von 30 Prozent“,
sagt der Hauptgeschäftsführer des Branchenverbands Dehoga, der in Berlin
die Interessen von 800 Beherbergungsbetrieben und 19.000 Restaurants, Cafés
oder Bars vertritt. Noch im Mai hatte Lengfelder nach einer Umfrage
geschätzt, dass einem Drittel der Betriebe die Insolvenz drohe. Nun, drei
Monate später, ist er noch pessimistischer. „Wir schätzen, dass 50 bis 60
Prozent der Betriebe dichtmachen können“, sagt er.
Auch Lengfelder weiß natürlich, dass die Stadt auf den ersten Blick voll
ist und Party feiert. „In der Gastronomie sind die Außenflächen und
Biergärten gut besucht. Da hat man das Gefühl, alles sei in Ordnung.“ Doch
hinter den Kulissen sei „nichts in Ordnung“. Vor allem im Herbst erwartet
er einen Einbruch. „Wenn es draußen wieder kühler ist, ist Feierabend.“
Lengfelder will, dass die Bezirksämter weiterhin Flächen für die Bestuhlung
zur Verfügung stellen. „Und wir fordern auch, dass Heizmöglichkeiten
erlaubt werden. Die Leute gehen einfach nicht in die Innenräume.“ Ein
entsprechendes Schreiben an die Bezirksämter hat die Dehoga schon
losgeschickt. Eine Rückmeldung aber hat Lengfelder noch nicht bekommen.
Und was, wenn ein neuer Lockdown droht? „Einen zweiten Lockdown kann ich
mir und will ich mir nicht vorstellen, das wäre der GAU“, sagt Lengfelder.
Auszuschließen ist derzeit aber gar nichts. Am Donnerstag war die Zahl der
neuen Coronafälle in Deutschland auf über 1.400 gestiegen, so viele wie
seit Mai nicht mehr. „Wenn sich die Disziplin in den Gaststätten nicht
verbessert“, hatte Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) zu
Wochenbeginn gefordert, müsse man über ein Alkoholverbot nachdenken. Ein
solches Verbot ist zwar wieder vom Tisch, aber die Disziplin bleibt ein
Thema, hat auch Lengfelder festgestellt. „Es ist schon so, dass in Hamburg
oder München streng kontrolliert wird und auch die Kontaktdaten hinterlegt
werden müssen. Wenn sie nach Berlin kommen, merken sie sofort, dass das
hier nicht der Fall ist. Wir appellieren daher an die Gastronomen, die
Regeln strenger einzuhalten, und auch an die Ordnungsämter, darauf zu
achten.“ Bei Kontrollen in Neukölln und Mitte hatten die Ordnungsämter
zuvor zahlreiche Regelverstöße festgestellt.
Von einem Normalzustand ist Berlin also weit entfernt, und die kühlen
Monate rücken näher. Die Krise habe Berlin zwar stärker als Deutschland
insgesamt getroffen, sagt VisitBerlin-Chef Kieker. Im Vergleich zu manchen
anderen Städten stehe die Hauptstadt aber noch gut da. „Das liegt daran,
dass wir auch bei deutschen Touristen sehr beliebt sind.“ Es gebe zudem
schon wieder Gäste vor allem aus Dänemark, den Niederlanden, der Schweiz
und Österreich, die nach Berlin kämen, sagte Kieker. „Aber viele
europäische Gäste fehlen noch.“
14 Aug 2020
## AUTOREN
Uwe Rada
## TAGS
Berlintourismus
Neukölln
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Berlin
Lesestück Recherche und Reportage
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