| # taz.de -- Security-Gewalt in Ankerzentrum: Mitnichten ein Einzelfall | |
| > Ein Geflüchteter wird von Wachleuten in einem Ankerzentrum misshandelt. | |
| > Eine Anzeige bleibt erfolglos, das Verfahren wird eingestellt. | |
| Bild: Die Harmlosigkeit täuscht: Bild aus dem Ankerzentrum in Bamberg | |
| Nürnberg taz | Am Abend des 27. September 2017 möchte der senegalesische | |
| Flüchtling Sidi F. ein Stück Brot aus der Kantine des Bamberger | |
| Ankerzentrums mit nach draußen nehmen. Das Wachpersonal habe ihm das nicht | |
| erlauben wollen, die Situation eskaliert, die Security wendet Gewalt gegen | |
| ihn und seinen Freund an. Ob das rechtmäßig war, sollte vor Gericht | |
| verhandelt werden, nachdem Kollegen der Sicherheitsleute Anzeige erstattet | |
| haben. Doch die Bamberger Behörden haben die Ermittlungen eingestellt. Sidi | |
| F. hat deswegen am 13. Februar Verfassungsbeschwerde beim | |
| Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingelegt, um ein Verfahren zu | |
| erzwingen. | |
| Sidi F. möchte nicht, dass sein echter Name veröffentlicht wird. Der | |
| senegalesische Flüchtling befindet sich derzeit in Italien und war für ein | |
| Gespräch nicht zu erreichen. Die taz hat aber mit seinem Anwalt Benjamin | |
| Derin gesprochen. Dieser sieht den Anspruch seines Mandanten auf effektive | |
| Strafverfolgung verletzt, der auf dem Grundrecht auf körperliche | |
| Unversehrtheit beruht. | |
| Der Vorfall, um den es geht, gehört in eine Reihe von Berichten über | |
| Securitygewalt in der Anker-Einrichtung Oberfranken (AEO). Zu einer | |
| Verurteilung von Sicherheitspersonal kam es bislang nie. Auch im Fall von | |
| Sidi F. und seinem Freund hat die Polizei zunächst nur gegen die beiden | |
| beteiligten Geflüchteten wegen Körperverletzung ermittelt, die beiden als | |
| Beschuldigte vernommen. Am 20. Oktober, also gut drei Wochen nach dem | |
| Vorfall, erstatteten zwei Whistleblower aus den Reihen der | |
| Sicherheitskräfte Anzeige und sagten gegen ihre Kollegen aus. Erst danach | |
| änderte sich die Ermittlungsrichtung. | |
| Durch diese Whistleblower drang an die Öffentlichkeit, dass Fälle massiver | |
| Gewaltauseinandersetzungen in der AEO im Sommer 2017 keine Seltenheit | |
| waren. Und dass die Ausbrüche mit der Praxis eines sogenannten Sonderteams | |
| in Zusammenhang standen, einer speziellen Einsatzgruppe, geschult in | |
| Nahkampftechniken, die Konfliktsituationen offenbar bewusst eskalieren | |
| ließ. | |
| ## Drastisches Bild | |
| In Gesprächsprotokollen, die im Herbst 2017 entstanden sind, zeichnen die | |
| Whistleblower ein drastisches Bild von der Auseinandersetzung am 27. | |
| September. Sidi F.s Freund, ebenfalls ein Senegalese, sei von Mitgliedern | |
| des Sonderteams mit Pfefferspray attackiert worden. Auf dem Boden liegend | |
| habe er nach Wasser gerufen. Als F. ihm habe Wasser bringen wollen, sei er | |
| ebenfalls zu Boden gebracht und gefesselt worden. Beide Männer seien mit | |
| Fäusten, Knien und Füßen geschlagen und getreten worden, auch gegen den | |
| Kopf. Ein Wachmann habe sich mit beiden Füßen und vollem Gewicht auf den | |
| Kopf des liegenden Sidi F. gestellt. Am selben Tag tragen zwei weitere | |
| Senegalesen Verletzungen von einer Auseinandersetzung am Nachmittag davon. | |
| Einer von ihnen verliert mehrere Zähne, Sicherheitsleute sagen aus, er habe | |
| sich die Verletzungen selbst zugefügt. | |
| Teile der Security, die an den Zusammenstößen beteiligt waren, tauschten | |
| sich zu der Zeit in der Chatgruppe „Sons of Odin“ aus. Die Inhalte, die der | |
| BR in Teilen im Mai 2019 veröffentlichte, belegen rechtsradikales | |
| Gedankengut. Unmittelbar nach dem Zusammenstoß am 27. September 2017 | |
| schrieb demnach einer der beschuldigten Sicherheitsleute dort, er habe | |
| heute einen Senegalesen „gelegt“. Und: „War heftig, wie der bekommen hat.… | |
| Die Firma Fair Guards, zuständig für die Sicherheit im Ankerzentrum, | |
| suspendierte die Mitglieder der Chatgruppe und löste das Sonderteam auf. | |
| Sidi F. lebt heute in Italien, abgeschoben nach Dublin-Verordnung. Die | |
| Ermittlungen gegen zehn Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes wegen | |
| gefährlicher Körperverletzung waren von der Bamberger Staatsanwaltschaft im | |
| Sommer 2018 eingestellt worden, das Oberlandesgericht lehnte einen Antrag | |
| auf Klageerzwingung ab. Es sei keine „hinreichende | |
| Verurteilungswahrscheinlichkeit gegeben“. Heißt: Die Staatsanwaltschaft | |
| hält die Beweislage für nicht ausreichend, um Anklage zu erheben, das OLG | |
| schließt sich dem an. Der Berliner Rechtsanwalt Benjamin Derin, | |
| spezialisiert auf Verfassungsrecht, hat in F.s Namen die | |
| Verfassungsbeschwerde eingelegt. | |
| ## Tatverdacht hinreichend | |
| Derin kann die Entscheidung des Gerichts nicht nachvollziehen. „In jedem | |
| anderen Fall“, sagt er, „würden vier so übereinstimmende Aussagen | |
| ausreichen, um zumindest ein Gerichtsverfahren zu eröffnen.“ Die | |
| Zeugenaussagen begründen aus seiner Sicht einen hinreichenden Tatverdacht. | |
| In diesem Fall aber würden diese aber als nicht glaubhaft beiseite | |
| gewischt. „Diese Beurteilung müsste man einem Tatgericht überlassen. Man | |
| verbiegt sich hier, um um eine Aufarbeitung herumzukommen.“ | |
| Rechtsanwältin Christine Lüth, die zuvor die Beschwerde gegen die | |
| Entscheidung der Staatsanwaltschaft verfasst und Klageerzwingung beim OLG | |
| beantragt hatte, pflichtet ihm bei: „Wenn ich das mit anderen Verfahren | |
| vergleiche, muss ich sagen: Wären die Mandanten EU-Bürger gewesen, wäre es | |
| nie zu einer Einstellung gekommen. Da bin ich ganz sicher.“ | |
| Das Bamberger Oberlandesgericht weist diese Darstellung zurück: „Die | |
| Entscheidung, ob Anklage erhoben oder das Strafverfahren eingestellt wird, | |
| richtet sich schon aus rechtsstaatlichen Gründen nicht nach irgendeiner | |
| Anzahl von Zeugen oder ‚Gegenzeugen‘, sondern hängt von der Gesamtbewertung | |
| aller Umstände des Einzelfalls ab“, teilt Bernd Weigel mit, Richter und | |
| Leiter der Gerichtspressestelle. | |
| ## Vernehmungen ohne Dolmetscher | |
| In seinem Beschluss argumentiert das OLG Anfang Januar 2020: Die | |
| dokumentierten Verletzungen des Sidi F. seien nicht mit den Schilderungen | |
| der Prügel in Einklang zu bringen. „Diese Argumentation ist schlicht eine | |
| Frechheit“, sagt Aino Korvensyrjä, die das das Verfahren beobachtet. Die | |
| Aktivistin bei Justizwatch promoviert an der Uni Helsinki über die | |
| Auswirkungen rechtlicher Gewalt auf abgelehnte Asylsuchende in Deutschland. | |
| Sie hat mit den Whistleblowern und mit Sidi F. gesprochen und sagt: „Die | |
| Polizei hat die Verletzungen von Sidi F. gar nicht dokumentiert. Außerdem | |
| stützt sich das OLG auf Vernehmungen, die ohne Dolmetscher geführt wurden.“ | |
| Der Vermerk eines Polizeibeamten in der Ermittlungsakte, es seien keine | |
| Verletzungen zu erkennen, stamme von den Vernehmungen, die erst nach den | |
| Aussagen der Whistleblower geführt worden seien, also gut einen Monat nach | |
| den Schlägen. „Der Beamte hat nicht angegeben, ob und wie er Sidi F. | |
| untersucht hat und ob er ausreichend medizinische Fachkunde besitzt, um | |
| eine solche Aussage zu treffen“, sagt Korvensyrjä. | |
| Dem OLG liegt außerdem ein rechtsmedizinisches Gutachten vor, das am 26. | |
| Oktober angefertigt wurde, ziemlich genau einen Monat nach dem Vorfall. Der | |
| beauftragte Arzt diagnostizierte Narben, Schwellungen und Hautdefekte | |
| älteren Ursprungs, die aus dem Zeitraum des Vorfalls stammen könnten, aber | |
| nicht müssen. | |
| ## Opfer müsste anders aussehen?! | |
| Während also ein Arzt Verletzungen findet, die von den Securities stammen | |
| könnten, beschließen Oberlandesgericht und Staatsanwaltschaft, dass ein | |
| Opfer nach geschilderter Gewalteinwirkung anders aussehen müsste. „Sieht | |
| ein Laie denn diese Verletzungen von außen?“, fragt Benjamin Derin. „Hat | |
| das Gericht die medizinische Fachkenntnis, um das zu beurteilen? Ich glaube | |
| nicht.“ Hinzu komme, dass auch die Beschuldigten beispielsweise den Einsatz | |
| von Pfefferspray gar nicht bestreiten. Die Erfolgsaussichten seiner | |
| Beschwerde mag Derin nicht beziffern, das Verfassungsgericht habe in diesem | |
| Jahr aber schon einigen Klageerzwingungsverfahren stattgegeben. | |
| Dass die Justiz das Verfahren eingestellt hat, habe sie nicht überrascht, | |
| sagt Aino Korvensyrjä. Sie hat über 20 ähnliche Prozesse begleitet und | |
| außerdem mit Opfern gesprochen, die aus Angst oder wegen fehlender Aussicht | |
| auf Erfolg gar nicht erst Anzeige erstatten wollten. Die von Securitygewalt | |
| am schlimmsten betroffene Zielgruppe seien ihrer Erfahrung nach Geflüchtete | |
| aus afrikanischen Ländern. „Asylsuchenden und Schwarzen Menschen wird vor | |
| Gericht in Deutschland nur selten Glauben geschenkt“, sagt Korvensyrjä. | |
| „Das ist die Hauptausdrucksform von institutionellem Rassismus bei der | |
| bayerischen und deutschen Polizei und Strafjustiz.“ Die Hoffnung im Fall | |
| von Sidi F. liege in den wertvollen Aussagen der Whistleblower begründet. | |
| Während Sidi F.s Beschwerde auf den Schreibtischen des | |
| Verfassungsgerichtshof in München landet, muss sich die Bamberger | |
| Staatsanwaltschaft mit dem nächsten Fall aus dem Ankerzentrum | |
| auseinandersetzen. Der [1][Bayerische Flüchtlingsrat] veröffentlichte am | |
| 23. Juni ein Video, auf dem zu sehen ist, wie ein auf dem Boden | |
| festgehaltener Bewohner des Ankerzentrums von einem Wachmann mit dem Knie | |
| gestoßen wird. Die Staatsanwaltschaft Bamberg ermittelt in diesem | |
| Zusammenhang nun gegen den Bereichsleiter, unter dessen Verantwortung | |
| bereits das Sonderteam aufgebaut worden war. | |
| ## Joachim Herrmann bemüht | |
| Der Vorfall ereignete sich am 26. Februar 2019, zu einem Zeitpunkt also, | |
| als die Reihen der Sicherheitsleute vorgeblich bereits von Gewalttätern | |
| befreit waren. Der Bayerische Flüchtlingsrat warnt immer wieder, viele | |
| Fälle systematischer Gewalt drängen gar nicht nach außen, weil die | |
| Asylsuchenden im Lager zu oft die Erfahrung gemacht hätten, ihnen werde | |
| nicht geholfen. Im Gegenteil: Sie würden Opfer von Gewalt und anschließend | |
| als Beschuldigte vernommen. | |
| Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann ist bemüht, die Einrichtung | |
| Ankerzentrum an sich zu verteidigen. In einem [2][Interview mit dem | |
| Bayrischen Rundfunk] im August 2019 sagte er: „Es hat einzelne Fälle | |
| gegeben, wo in der Tat von solchen Mitarbeitern indiskutables Verhalten da | |
| war. Solche Leute sind dann entlassen worden oder auch der Vertrag mit der | |
| entsprechenden Firma ist gekündigt worden.“ | |
| Tatsächlich hat die Regierung von Oberfranken die Bewachungsdienstleistung | |
| neu ausgeschrieben, und zwar schon zum 1. September 2019. Das Verfahren ist | |
| allerdings ins Stocken geraten. „Bis zum Abschluss des Vergabeverfahrens – | |
| voraussichtlich im 3. Quartal 2020 – ist der bisherige Sicherheitsdienst | |
| noch interimsweise weiter in der AEO tätig“, teilt ein Regierungssprecher | |
| mit. Noch immer ist also Fair Guards dort im Einsatz. | |
| 27 Jul 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.fluechtlingsrat-bayern.de/securitygewalt-in-bamberg/ | |
| [2] https://www.br.de/mediathek/podcast/aktuelle-interviews/ein-jahr-ankerzentr… | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Thamm | |
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