# taz.de -- Berliner Modelabel Manheimer: Preußische Sprezzatura | |
> Einst entwickelte Valentin Manheimer die Konfektionsgröße und | |
> ermöglichte so erschwingliche Massenware. Nun wird das Label zeitgemäß | |
> wiederbelebt. | |
Bild: Mithilfe eines Algorithmus werden die passenden Größen für die Anzüge… | |
Dass Andreas Valentin kurz bevor er im Sommer 2014 nach Deutschland | |
aufbrach, ein Päckchen mit der Aufschrift „Berlin“ zwischen den Sachen | |
seines Vaters fand, nennt der Fotograf und Kunsthistoriker heute „Zufall“. | |
Wenn er von all den anderen Zufällen erzählt, die dazu führten, dass er das | |
Erbe seines Ururgroßvaters, dem „Mantelkönig von Berlin“, antrat, könnte | |
man meinen, es wäre Schicksal gewesen. | |
Vor seiner Berlin-Reise wusste Herr Valentin nur wenig über dieses Erbe. | |
Und hätte er das Päckchen nicht in sein Handgepäck gesteckt, hätte sich | |
daran wohl nichts geändert. Wie auch? Zu Hause wurde kaum über die | |
Familiengeschichte vor der Ankunft in Rio de Janeiro gesprochen. | |
Verständlich, wenn man bedenkt, dass sein Vater Deutschland 1938 verlassen | |
musste, weil er Jude war. | |
Und so gab es – neben der deutschen Sprache und einem Abo des | |
Mickey-Mouse-Heftes – zu wenig, was Herr Valentin als Kind mit seinen | |
Wurzeln in Deutschland verband. Bis er das Päckchen öffnete. Darin: elf | |
Dias des Vaters aus seiner Zeit in Deutschland. Ein Teil vergessene | |
Familiengeschichte. Und so entwickelte sich aus dem, was eigentlich als | |
Recherchereise zu den Schnittstellen deutscher und brasilianischer | |
Fotografie geplant war, eine Reise in die eigene Vergangenheit, und damit | |
auch zu seinem Ururgroßvater, Valentin Manheimer. | |
Eigentlich müsste der Name Manheimer im Pantheon bedeutender deutscher | |
Industrieller stehen, gleich neben [1][Gottlieb Daimler]. Zwar weiß heute | |
jeder, dass Daimler die Art und Weise, wie wir uns fortbewegen, für immer | |
revolutionierte, den Namen Manheimer hingegen kennt kaum einer. Und das, | |
obwohl er als einer der Erfinder der Konfektionsgröße die Art und Weise | |
revolutionierte, wie wir uns bis heute kleiden. | |
## Mit der Konfektion zum Welterfolg | |
Manheimer war nicht der Erste, der auf die Idee kam, Kleidung in Serie | |
herzustellen, doch als er 1839 ein Geschäft für Damenbekleidung in | |
Berlin-Mitte öffnete, verhalf er der Konfektion zum Welterfolg. Der Clou, | |
ein einfaches Größensystem, für das er Hunderte Frauenkörper vermessen | |
ließ. Ausgezeichnet mit farbigen Sternchen, die er der Größe entsprechend | |
in die Mäntel einnähte. | |
Der berühmte „Berliner Mantel“ aus dem Haus „V. Manheimer“ war | |
erschwinglich und ein internationaler Erfolg. Zu Hochzeiten unterhielt das | |
Modeimperium Manheimer eine eigene Filiale in London und beschäftigte | |
allein in Berlin über 8.000 Mitarbeiter:innen. | |
Das Zentrum der Berliner Fashion-Industrie war der Hausvogteiplatz, wo sich | |
neben Valentin Manheimer eine handvoll jüdischer Unternehmer:innen und | |
Konfektionist:innen ansiedelte. Während man in Paris und Mailand | |
Exklusives für die Bourgeoisie schneiderte, kam die Stangenware für die | |
Massen aus Berlin. Das verhalf der Berliner Modebranche zum Welterfolg. | |
Dass diese Branche einst einer der wichtigsten Arbeitgeber der Hauptstadt | |
war, ist längst vergessen. 1931 ging die Firma Manheimer pleite. Den Rest | |
der jüdisch-deutschen Erfolgsgeschichte am Hausvogteiplatz tilgten wenig | |
später die Nazis. Außer den Initialen „V.M.“, die bis heute das | |
schmiedeeiserne Eingangstor der Oberwallstraße 6 zieren, erinnert dort kaum | |
etwas an die Marke Manheimer. | |
## Christian Boros auf den Spuren der Manheimer Geschichte | |
Das möchte Christian Boros ändern, zusammen „mit einer ganzen Bande“, wie | |
der Unternehmer und Kunstmäzen seine Mitstreiter nennt. Die „Bande“, das | |
sind der Unternehmer Lothar Eckstein, der Anwalt Matthias Düwel, der | |
Manager Martin Picherer und Ingo Brinkmeier, der bereits für Jil Sander und | |
Strenesse arbeitete. | |
Ihre Idee: eine Marke schaffen, die Bestand hat, fernab von | |
Fast-Fashion-Konzernen und kurzweiligen Mode-Start-ups. Etwas, womit man | |
sich identifizieren kann. Was so eine Marke braucht, um erfolgreich zu | |
sein, war allen klar: Geschichte. Dass da die Wahl auf „Manheimer“ fällt, | |
geschenkt. | |
Doch um „Manheimer“ wieder aufleben zu lassen, fehlte der Gruppe eine | |
entscheidende Sache. Ein Verbindungsstück in die Vergangenheit, ein | |
Nachkomme. Nicht nur, um den eigenen Ansprüchen an die Authentizität | |
gerecht zu werden, sondern allein schon aus Respekt gegenüber der bewegten | |
Familiengeschichte. | |
2018 reist Andreas Valentin erneut nach Berlin. Er bereitet eine | |
Ausstellung vor, die sich mit ebenjenen Spuren beschäftigt, die er 2014 | |
freilegte. Nach einer Besichtigung des Ausstellungsortes wartet er auf die | |
U-Bahn. Zufällig entdeckt er eine Jüdische Allgemeine am Kiosk, schlägt sie | |
auf und entdeckt darin ein Foto des ehemaligen Firmensitzes seines | |
Ururgroßvaters. | |
## Jüdische Konfektionäre am Hausvogteiplatz | |
Der Artikel erzählt vom Projekt „Brennende Stoffe“, das sich mit den | |
jüdischen Konfektionären am Hausvogteiplatz beschäftigt. Er kontaktiert die | |
Projektleiterin Kristin Hahn, die wiederum mit Lothar Eckstein befreundet | |
ist. | |
Als Eckstein den Manheimer-Erben schließlich kontaktiert, muss der nicht | |
zweimal überlegen: „Es hat sofort Klick gemacht.“ Das fehlende Glied, das | |
die Marke mit ihrer Geschichte verbindet, ist gefunden. | |
Doch bei „Manheimer Berlin“, wie sich der Nachfolger nennt, läuft vieles | |
anders als vor über 150 Jahren. Heute geht es nicht um Damenmäntel von der | |
Stange, sondern um exklusive Herrenmode. „Manheimer Berlin“, das ist | |
„Formal Wear for Informal People“: Anzüge mit „Haltung“, wie es Boros | |
nennt. Gefertigt in Süditalien und nicht in Berlin. | |
Wenn man es mit Anzügen ernst meint, komme ein anderer Produktionsstandort | |
ohnehin nicht infrage. Nirgendwo sonst versteht man sich darauf, Anzüge zu | |
schneidern, die das ausstrahlen, was man in Italien „Sprezzatura“ nennt: | |
jene Lässigkeit, die etwas Formelles wie einen Anzug unangestrengt und | |
leicht wirken lässt. | |
## Luxus- statt Stangenware | |
Was also bleibt vom alten Erbe? Männer- anstatt Damenmode, Luxus- anstatt | |
Stangenware, süditalienische Sprezzatura anstatt Berliner „arm, aber sexy“. | |
Doch wer genauer hinschaut, entdeckt sie, die roten Fäden, die „Manheimer | |
Berlin“ mit der Vergangenheit verbinden. Sie offenbaren sich erst auf den | |
zweiten Blick, wie es bei guter Männermode eben sein muss. | |
Boros nennt es „die Haltung, die Idee von Eleganz und von Urbanität“, die | |
sich im alten wie im neuen Manheimer finden. Sei es die damals so populäre | |
Uhrentasche, die man getreu dem Zeitgeist des 21. Jahrhunderts in eine | |
Handytasche uminterpretiert hat, oder der Berliner Mantel. Der bedient sich | |
großzügig am Schnitt des legendären Originals und wird auch heute wieder in | |
Berlin gefertigt. | |
Doch da ist noch mehr. Der Mut, Dinge anders zu machen, mit dem bereits | |
Valentin Manheimer seine Marke zum Erfolg führte. In einer Zeit, in der | |
Marken bis zu sechs Kollektionen im Jahr anbieten, verkauft Manheimer | |
zeitlose Klassiker. Wo andere Filialen auf der ganzen Welt eröffnen, gibt | |
es Manheimer-Anzüge nur im eigenen Onlineshop zu kaufen, sonst nirgends. | |
All das spart Geld, die der Qualität zugutekommen soll. | |
Selbst das Vermächtnis der Konfektion trägt das neue „Manheimer“ in die | |
heutige Zeit. Anhand von Größe, Alter, Gewicht und Körperform ermittelt ein | |
Algorithmus, welcher Anzug passt. Zusätzlich arbeitet die Marke mit | |
Maßschneider:innen in ganz Deutschland zusammen. Die schneidern einem | |
den Rohling quasi auf den Leib, auf Kosten des Hauses. | |
8 Jul 2020 | |
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[1] /Die-Wahrheit/!5621097 | |
## AUTOREN | |
Patrick Wagner | |
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