# taz.de -- Philosophie der Mode: Mit Walter Benjamin am Laufsteg | |
> Die Figur des Tigersprungs in die Vergangenheit war nicht nur Bild für | |
> die allgemeinen Manöver der Mode. Sie meinte konkret die Mode der 1930er | |
> Jahre. | |
Bild: Walter Benjamin schrieb vom Tigersprung ins Vergangene und bezog sich auf… | |
Dass Philosophen sich auf ernsthafte Weise mit Mode beschäftigen, geschieht | |
selten genug und liegt vermutlich daran, dass Mode reflexhaft als | |
oberflächlich und frivol denunziert wird. An der angeblichen | |
Reinverkörperung von Ware und Konsum möchte man sich nicht die | |
intellektuellen Finger schmutzig machen. Andersherum passiert es noch | |
seltener, dass Modeschöpfer sich beim Entwerfen auf Philosophen berufen. | |
Wohl deshalb war es dem Guardian eine Schlagzeile wert, als der | |
deutsch-jüdische Denker Walter Benjamin (1892–1940) vor vier Jahren für | |
eine Saison zum Stichwortgeber der Luxusmarke Gucci wurde. | |
Deren Chefdesigner Alessandro Michele hatte sich in den show notes für | |
seine „Poetic Reactivation“-Kollektion auf Benjamins Ideen berufen, wie die | |
Mode aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurückgreift, um deren Elemente | |
ins Jetzt zu reißen und aus diesem zeitlichen Differenzspiel Funken zu | |
schlagen; eine Denkfigur, die Benjamin konzis im Bild des modischen | |
„Tigersprung[s] ins Vergangene“ gefasst hatte. „Why is it fashionable“, | |
fragte die britische Tageszeitung daraufhin, „to quote Walter Benjamin | |
these days?“ | |
Die Modewelt hinkte hier zwar eindeutig anderen Kulturindustrien hinterher, | |
in denen seit einer geraumen Weile Benjamin-Verweise so freizügig gesetzt | |
werden, dass man sich wünscht, dass, wenigstens zur Abwechslung, nicht | |
gefühlt jedes dritte Ausstellungskonzept im Bereich der zeitgenössischen | |
Kunst den armen „Engel der Geschichte“ auf die Piste schickt. Micheles | |
Interesse an Benjamin schien aber teilweise gut begründet. | |
Denn in seiner besagten Gucci-Sommerkollektion 2016 schlug Michele eine | |
ganze Reihe stilistisch eigentlich unvereinbarer Positionen mit einer | |
Nostalgie-Klappe: Er stylte die harschen Looks aus dem Film „Wir Kinder vom | |
Bahnhof Zoo“ schamlos um zu einer Hippie-Posse, inklusive dandyesker | |
Seiden-Hausmäntel, in denen dann – im Werbevideo zur Kollektion – auf den | |
Dächern der Karl-Marx-Allee eine nostalgische | |
Flower-Power-Sonnenuntergangsparty gefeiert wurde. | |
## „Herz der abgeschafften Dinge“ | |
Für solche soft-infantilen Spiele mit bunten, bohemistischen Retro-Stilen | |
wird Michele von Kritik wie Kundinnen und Kunden bejubelt und gekauft. Und | |
damit schien er durchaus auf Benjamins Linie zu liegen. Der attestierte der | |
Mode nämlich, dass sie – im Unterschied zu konventionellen | |
Geschichtserzählungen, die eins nach dem anderen aufreihen, oder zu | |
stilgeschichtlichen Bezügen, die nur auf jeweils einen Punkt in der | |
Vergangenheit zielen – immer wieder nichtlinear vorgeht, wenn sie ins „Herz | |
der abgeschafften Dinge“ vorstößt und dabei das, was schon einmal | |
aussortiert worden ist, als neuen Differenzgenerator ins Jetzt einträgt. | |
Was Michele nicht wusste und was auch die meisten Benjamin-Forscherinnen | |
und -Forscher nicht wissen: dass Benjamin mit der Figur des Tigersprungs in | |
die Vergangenheit nicht nur ein Bild für die allgemeinen Manöver der Mode | |
gefunden hatte, sondern dass er sich sehr konkret auf Mode-Momente seiner | |
eigenen Gegenwart, dem Paris der 1930er Jahre, bezog. | |
Benjamin hätte diese Momente ohne die Unterstützung einer Person kaum | |
erkennen können, die ihm sehr behilflich dabei war, die Mode seiner Zeit zu | |
verstehen. In deprimierend-vertrauter Weise wird ihr Beitrag allerdings, | |
wie derjenige vieler Frauen, gern vergessen. Die Rede ist von der | |
[1][Autorin Helen Grund]. | |
Grund (1886–1982) war eine einflussreiche Modejournalistin und | |
-Redakteurin, die in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren von ihrem | |
Wohnort Paris aus ihre deutsche Leserschaft über Trends und Kollektionen | |
der großen Modehäuser informierte und unterhaltsame Essays verfasste – zum | |
Beispiel, noch vor ihrem Umzug von Berlin nach Paris, einen Mentor für | |
Neureiche. Ihre Arbeiten erschienen im Magazin Für die Frau, das der | |
Frankfurter Zeitung – dem großen liberalen Flaggschiff der damaligen | |
Presselandschaft – beilag und dessen Moderessort sie bald leitete. | |
## Helen Grund nahm Walter Benjamin mit | |
Grunds Texte fanden weites Interesse bis hin zum strengen Leser Theodor W. | |
Adorno, der sich mit Benjamin über Grunds Ansichten zur Mode in Briefen | |
verständigte. Benjamin war mit ihr schon in der Weimarer Republik bekannt | |
gewesen und nahm dann, nachdem Nazideutschland ihn ins Pariser Exil | |
vertrieben hatte, dort wieder Kontakt auf; in seinen eigenen Briefen | |
erwähnt Benjamin sogar, dass Grund ihn mit zu Defilees genommen hat: Dank | |
ihr hat Walter Benjamin Modenschauen gesehen. | |
Grund, deren Ménage à trois mit ihrem Mann, dem Essayisten Franz Hessel, | |
und dem französischen Autor Henri-Pierre Roché übrigens später zur Vorlage | |
für [2][François Truffauts Film] „Jules et Jim“ (1962) wurde, mit Jeanne | |
Moreau in der Hauptrolle, bemerkte im Paris der 1930er Jahre die | |
Merkwürdigkeit, dass sich die Mode wieder mit den Styles der Belle Epoque | |
befasste, also des späten 19. Jahrhunderts. | |
Sie erkannte dies zunächst in kleinen Hütchen, die die Pariserinnen zu | |
tragen begannen – offenbar waren sie inspiriert von den Kopfbekleidungen, | |
die der Maler Manet auf den Häuptern seiner Pariser Zeitgenossinnen gesehen | |
und gemalt hatte. Eine große Manet-Ausstellung im Musée de l’Orangerie war | |
kurz zuvor, 1932, in der Stadt der Renner gewesen. | |
Die historische Bezugnahme eskalierte dann schnell: Parallel zum Hütchen | |
machte die betonte Hüftrundungen generierende elastische Formunterwäsche | |
alle Androgynie-Bemühungen der Mode der 1920er Jahre zunichte, und am Ende | |
der Dekade war man teilweise beim vollen Korsett wiederangekommen; auch die | |
Krinoline – der weite Reifrock – und sogar der sogenannten Pariser Po, der | |
Cul de Paris, bei dem die Rückseite des Rockes wie eine | |
Getränkeabstellfläche ausgepolstert ist, waren bei Lanvin, Schiaparelli | |
oder Balenciaga wieder en vogue. | |
## Die Rückkehr der Belle Epoque in die Salons seiner Zeit | |
Dies wohlgemerkt alles, bevor Christian Dior dann in den 1940er Jahren, | |
nach dem Zweiten Weltkrieg, für die Wiedereinführung der dramatischen | |
Taille in seinem New Look gefeiert wurde. | |
Kein Wunder, dass Benjamin, von Grund auf solche Entwicklung gestoßen, hier | |
aufmerken musste, schrieb er doch genau zu diesem Zeitpunkt an seinem | |
Passagenwerk, einer geschichtsphilosophischen Durcharbeitung von Paris als | |
„Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“. Was Grund auf Laufstegen sah, passte zu | |
seinem eigenen Großprojekt, in dem er das, was im vorherigen Jahrhundert | |
begraben schien, in die Gegenwart holte. | |
Das heißt: Wenn Benjamin vom Tigersprung ins Vergangene schrieb, meinte er | |
damit nicht bloß eine generelle Retro-Mechanik der Mode, sondern ganz | |
konkret die Rückkehr der Belle Epoque in die Salons und Magazine seiner | |
Zeit. Angesichts solcher Beispiele folgerte er, dass „jede Strömung der | |
Mode“ ihr „Gefälle vom Vergessen her“ hat. | |
Diese Verallgemeinerung Benjamins ist allerdings schwierig: Ihm entging | |
nämlich nicht nur, dass man Mode auch vollkommen unabhängig von solchen | |
Retroismen denken kann. Wichtiger noch: Er reflektierte nicht die | |
Bedingungen, unter denen dieser Sprung zurück in ein vergangenes Paris | |
damals geschah. | |
## Die Krise tangierte nicht das Luxus-Segment | |
Die Voraussetzung war ein Rollback der Errungenschaften der 1920er Jahre, | |
in denen mit der Garçonne, der Neuen Frau und dem Flapper Girl verschiedene | |
Designs durchgesetzt worden waren, die es ihren Trägerinnen erlaubten, sich | |
einigermaßen frei durch verschiedene soziale Kontexte, inklusive der | |
Erwerbsarbeit, zu bewegen. Die Mode, an der Benjamin sich orientierte, ist | |
zwar häufig atemberaubend schön und großartig gearbeitet. Ihre Paradestücke | |
sind aber nahezu ausschließlich Abendkleider, Ballroben, Outfits für den | |
großen Auftritt. | |
Deren damaliger Erfolg hatte wiederum mit einer ökonomischen Entwicklung zu | |
tun, die fatal an heutige Zustände erinnert. Im Zuge der | |
Weltwirtschaftskrise, nach dem Börsencrash von 1929, kollabierten auch | |
weite Teile der Modeindustrie. Aber genau wie heute galt, dass die Krise | |
nicht alle gleich trifft. Das Luxus-Segment berappelte sich schnell wieder. | |
An die Krägen ging es den Arbeiterinnen und Kundinnen in den Segmenten | |
darunter. Die Mode, die Benjamin vor Augen hatte, war das Äquivalent von | |
Mode für das eine Prozent: not for the many, but the very few. Die große | |
Garderobe wurde damals in Vogue oder Harper’s Bazaar auch gerne von | |
Socialites, Exil-Aristokratinnen oder Industriellengattinen vorgeführt. | |
## Der Tiger sprang nur für die Superreichen | |
Konstellationen, wie man sie in Grunds Beilage Für die Frau in den späten | |
1920er Jahren hatte sehen können, wo Modeillustrationen und Berichte über | |
die neueste Chanel-Kollektion neben Fotoreportagen über Frauen im modernen | |
Berufsleben oder in der Sowjetarmee standen, wurden zunehmend undenkbar. | |
Während Benjamin also mit dem Bild des Tigersprungs eine zündende Idee | |
dafür hatte, wie man sich die abrupte, buchstäblich gerissene Aneignung der | |
Vergangenheit für die Gegenwart der Mode vorstellen kann, und während Helen | |
Grunds Beitrag zu seinem Nachdenken zunehmend aus dem Fokus geriet, | |
bedachte Benjamin eines nicht: dass der Tiger damals nur für Superreiche | |
sprang. | |
5 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Philipp Ekardt | |
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