# taz.de -- Olympiavorbereitung im Turnen: „Ich bin insgesamt fitter“ | |
> Die Kölnerin Sarah Voss ist Rückschläge in ihrem Sport gewohnt. Aber vom | |
> Training Muskelkater zu bekommen, ist für sie neu. | |
Bild: Keine Wettkämpfe, aber viel Training: Sarah Voss bei der Arbeit | |
Bis dieses kleine, fiese Virus namens Corona kam, lief alles nach Plan. | |
2020 sollte das Jahr der Sarah Voss werden. Ihr Leben ist schließlich seit | |
jeher darauf ausgerichtet, bei den Olympischen Spielen in Tokio zu | |
brillieren. Sarah Voss vom Turnteam der Deutschen Sporthochschule Köln ist | |
20 Jahre alt. Also im perfekten Turnerinnenalter. Jung genug, um voller | |
Kraft, Elan und Spannung zu sein. Frei genug, um sich nach dem Abitur 2019 | |
noch ein bisschen mehr auf den Sport zu konzentrieren. Und erfahren genug, | |
um in entscheidenden Momenten Herrin über Körper und Geist zu sein. | |
Was lange eine Hoffnung war, ein Rechenspiel, großer Traum eines Mädchens | |
und akribisch durchdachter Plan der erfahrenen Kölner Turntrainerin Shanna | |
Poljakowa, sollte nun endlich Realität werden. 2018 wurde Voss Deutsche | |
Meisterin am Balken und am Sprung, 2019 kam der Titel im Mehrkampf hinzu | |
und die Kölnerin schaffte es bei der WM in Stuttgart ins Balken- und ins | |
Mehrkampffinale. Plötzlich gehörte sie neben gestandenen Stars wie | |
[1][Elisabeth Seitz], 2016 Olympia-Vierte am Stufenbarren, oder [2][Pauline | |
Schäfer,] 2017 Weltmeisterin am Schwebebalken, zu den Gesichtern des | |
deutschen Turnens. Ihr Ticket für Tokio schien nur noch Formsache zu sein. | |
Und nun? Olympia ist verschoben. Voss ist sauer. Enttäuscht. Irritiert. | |
Aber nicht mutlos. Bei Weitem nicht. Sie sagt: „Ruhe bewahren, abwarten und | |
die Zeit nutzen, das ist das Beste, was wir zur Zeit machen können. Ich | |
nehme jeden Tag, wie er kommt und gebe alles. Ich kämpfe weiter.“ | |
Was ist schon ein Jahr? 2021 ist Voss immer noch jung – und um einige | |
unverhoffte Erfahrungen reicher. Denn der coronabedingte Lockdown hat | |
allerlei Durcheinander in ihr sonst so sorgsam getaktetes Leben als | |
Spitzenturnerin und Wirtschaftswissenschafts-Fernstudentin gebracht. Voss | |
hat zum Beispiel plötzlich weiche Hände bekommen. Weil ein Training an den | |
Geräten für einige Wochen nicht möglich war, schmolz die mühevoll | |
erarbeitete Hornhaut dahin. Und sie, die viele Stunden hartes Training am | |
Tag wegsteckt wie andere einen gemütlichen Feierabendspaziergang, bekam | |
Muskelkater. Erst vom ungewohnten Joggen auf Asphalt, dann von der Rückkehr | |
an die Turngeräte. | |
Voss hat das alles mit einer erstaunlichen Gelassenheit hingenommen. Als | |
die Turnhallen zu waren, hat sie zu Hause im Garten trainiert und sich über | |
die gemeinsame Zeit mit ihrer Familie und ihrem Freund gefreut. Seit sie | |
wieder an die Geräte darf, genießt sie das Training, auch wenn es unter | |
strengen Hygieneauflagen und mit Abstand, also ohne direkte Hilfestellung | |
der Trainer stattfinden muss. Sie fühle sich sehr fit, sagt Voss. | |
Vielleicht sogar fitter als vor Corona. „Ich konnte mich anders fit machen. | |
Ich habe nicht gezielt meine Übungen trainiert, ich bin also nicht | |
wettkampf-leistungsfähig mit perfekten Übungen, aber ich bin insgesamt | |
fitter. Ich schaffe sehr viel im Training, arbeite an neuen Elementen, ich | |
fühle mich sehr gut.“ | |
## Warten auf den ersten Wettkampf | |
Im November sollen in Düsseldorf Deutschen Meisterschaften stattfinden, als | |
Qualifikation für die EM im Dezember in Baku in Aserbaidschan. Eventuell | |
werden im Oktober und November noch zwei Bundesligawettkämpfe ausgetragen. | |
„Wenn das alles klappt, hätten wir uns danach die Weihnachtsferien | |
verdient“, sagt Voss. Sie ist froh, für dieses Jahr überhaupt noch Ziele | |
vor Augen zu haben. Sie vermisst den Wettkampf. Das Adrenalin. Die | |
Anerkennung. „Wenn ich in eine vollbesetzte Halle komme, jeder schreit | |
meinen Namen und feuert mich an, und am Ende stimmt die Leistung, das ist | |
ein Gefühl, das man im Alltag nie erleben und auch nicht nachahmen kann. | |
Das ist es, wofür ein Leistungssportler lebt, wofür er Minimum 30 Stunden | |
pro Woche trainiert.“ | |
Olympia 2020 ist verschoben. Aber (noch) nicht abgesagt. Voss kämpft | |
unbeirrt weiter. Das kann sie. Mit Rückschlägen kennt sie sich aus. Als sie | |
12, 13 Jahre alt war, stand ihre Karriere auf der Kippe. Sie plagte sich | |
mit extremen körperlichen Problemen, vor allem mit Rückenschmerzen. Ihr | |
Körper schoss in die Länge und ihre Trainer wussten nicht mehr, wie sie ihr | |
noch helfen sollten. „Ich wurde viel geschont und habe viel Physiotherapie | |
bekommen, aber das hat alles erst mal nicht geholfen“, erzählt Voss. „Mein | |
Körper hat einfach Zeit gebraucht, bis alles wieder da war, wo es | |
hingehörte.“ | |
Innerhalb von weniger als anderthalb Jahren wuchs sie von 1,50 Meter auf | |
1,67 Meter. „Meine Hebel haben sich ständig verändert, dadurch bin ich etwa | |
am Stufenbarren dauernd mit den Fersen am unteren Holm angestoßen. Beim | |
Jägersalto, einem Standardelement, bin ich oft am Holm vorbeigeflogen oder | |
oben oder unten mit den Füßen aufgedozzt. Das war sehr frustrierend, eine | |
schwierige Zeit. Da war ich nicht immer voll motiviert“, erinnert sich | |
Voss. | |
Heute wird Voss für ihren eleganten Stil bewundert, den sie auch ihrer | |
Größe verdankt. [3][Simone Biles], die vierfache Rio-Olympiasiegerin aus | |
den USA, ist 25 Zentimeter kleiner. Bei Salti um die Breitenachse ist die | |
Amerikanerin unschlagbar. In Sachen Anmut dagegen hat eindeutig Sarah Voss | |
die Nase vorn. | |
Die Coronakrise sei etwas anderes als ihr Wachstumsschub, sagt Voss. „Ich | |
wäre ja bereit, nur das Drumherum ist es nicht.“ Doch Krise bleibt Krise. | |
Und das Motto der Sarah Voss lautet: „Ich nehme die Situation an und gebe | |
mein Bestes. Ich folge meiner Routine, höre auf meinen Instinkt.“ Olympia | |
2021 kann kommen. | |
23 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Susanne Rohlfing | |
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