Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Arbeitslosigkeit in den USA: Zwei von 30 Millionen
> Er hatte einen Spitzenjob in einer Maschinistengewerkschaft, sie
> arbeitete in einer Großküche. Jetzt sind die beiden US-BürgerInnen
> arbeitslos.
Als auch sein Land verstand, dass es nicht von dem Coronavirus verschont
bleiben würde, war Elias Alsbergas gerade verreist. In den Tagen nach
seiner Rückkehr nach Washington nahm er an einer lang geplanten Fortbildung
außerhalb der Hauptstadt teil. Am 23. März kam der Anruf, der seine Arbeit
in der Forschungsabteilung der Maschinistengewerkschaft zu einem Ende
brachte. Sein Chef teilte ihm mit, dass er entlassen war. Es war ein
„freundliches Gespräch“. Er gab Elias Alsbergas 60 Tage bis zum Ende des
Beschäftigungsverhältnisses. Hoffnungen auf eine Wiedereinstellung in der
Zukunft machte er ihm nicht.
Wenn sie die Abendnachrichten guckte, beschlich Margarita Vasquez schon
mehrere Wochen lang ein mulmiges Gefühl. In der großen Küche der Sky Chefs
am Flughafen John F. Kennedy in New York arbeitete sie mit Hunderten
Menschen auf Tuchfühlung. Mehrere Kollegen waren krank. Mitte März
unternahm sie einen neuen Anlauf zu einem Gespräch mit ihrem Manager. „Wir
brauchen Masken und Handreinigungsmittel“, sagte sie ihm. „Nicht nötig“,
lautete seine Antwort.
Margarita Vasquez wollte das Virus nicht mit nach Hause schleppen – zu
ihrem Mann, der an Diabetes leidet und der seit einem Schlaganfall nicht
mehr sprechen kann. Sie nahm ihren Jahresurlaub. Am Ende des Monats, als
der Flugverkehr in den USA zu einem Beinahe-Stillstand kam und als es
keinen Markt mehr für Gerichte aus der Großküche gab, erhielt sie die
Kündigung. „Wenn es wieder Arbeit gibt, melden wir uns“, sagte ihr jemand
von der Personalabteilung am Telefon.
Seither sind der 23-jährige Soziologe und die 64-jährige Arbeiterin auf
sich allein gestellt. Der junge Mann mit dem Universitätsabschluss, der
sich am Anfang einer Karriere mit Spitzengehalt und ungewöhnlich guten
Sozialleistungen wähnte, und die Frau aus El Salvador, die in New York für
den Mindestlohn und ohne Krankenversicherung arbeitet, gehören zu der Armee
von mindestens 30 Millionen Menschen in den USA, die wegen der Pandemie
ihre Arbeit verloren haben. Er hatte erst sechs Monate zuvor seinen „Job
fürs Leben“ angetreten. Sie wollte „in ungefähr zwei Jahren“ in Rente
gehen. Einen Teil ihrer Zeit wollte sie in dem kleinen Dorf San Ignacio im
Department Chalatenango in El Salvador verbringen, aus dem ihre Familie
stammt. Sie sagt: „Wir haben jetzt einen sehr guten Präsidenten.“. Sie hat
längst die US-amerikanische Staatsangehörigkeit. Aber wenn sie „unser
Präsident“ sagt, meint sie weiterhin den in El Salvador.
## Zu Beginn war vieles einfach
Stattdessen sitzen jetzt beide in Sackgassen, aus denen keiner den Ausweg
kennt. Nach Ablauf seiner Kündigungsfrist ist Elias Alsbergas im Juni zu
seinen Eltern nach Hawaii geflogen. Seinen Anteil an der Miete für die
Einzimmerwohnung in Washington, die er kurz vor der Pandemie mit seinem
neuen Freund bezogen hat, zahlt er weiter. Der Mietvertrag läuft noch bis
nächstes Jahr, und die Vermieterin war nicht zu Kompromissen bereit. Aber
das Interview mit der taz führt er aus seinem einstigen Kinderzimmer in
Makakilo, eine knappe Autostunde südwestlich von Honolulu.
Im New Yorker Bezirk Queens zieht Margarita Vasquez nervös ihre Kreise. Aus
Angst vor Ansteckung wagt sie sich nur noch selten auf die Straße. Sie
sagt, dass sie wegen des Eingesperrtseins allmählich „durchdreht“. Beim
Einkaufen beschränkt sie sich auf das Nötigste. Denn seit dem Beginn der
Pandemie ist alles teurer geworden. Das Hühnerfleisch, für das sie vorher 4
Dollar gezahlt hat, kostet jetzt 7 Dollar. Anderes Fleisch ist von 7 auf 10
Dollar gestiegen. Aber zu den Lebensmittelausgaben für Bedürfte, die
Kirchen und wohltätige Organisationen rund um die Stadt eingerichtet haben,
geht sie nicht. Dazu bräuchte sie ein Auto, das sie nicht hat. Die
Ratenzahlungen für ihr Haus sind fürs Erste ausgesetzt. Normalerweise
bezahlt Margarita Vasquez sie aus ihrem eigenen Lohn und aus den
Mieteinnahmen aus der Einliegerwohnung in ihrem Haus. Da aber auch ihre
Mieter wegen der Pandemie die Arbeit verloren haben, können sie zurzeit
keine Miete zahlen. Die Bank hat sich auf eine vorübergehende Zahlungspause
bis Ende August eingelassen. Den Gedanken daran, was anschließend passieren
könnte, verdrängt Margarita Vasquez.
Zu Beginn ihrer Arbeitslosigkeit waren viele Dinge, die sonst bürokratische
Hindernisläufe mit offenem Ausgang sind, einfach für Elias Alsbergas und
Margarita Vasquez. Sowohl die Arbeitsämter als auch die Bundesregierung
verteilten Mittel. Beide bekamen Arbeitslosengeld. Beide erhielten
zusätzlich 600 Dollar pro Woche, die der US-Kongress für Corona-Arbeitslose
bewilligt hat. Und beide kassierten die einmalige Konjunkturhilfe in Höhe
von 1.200 Dollar, die alle Steuerzahler in den USA erhalten haben. „Zahlung
mit wirtschaftlicher Auswirkung“ sowie der Name des US-Präsidenten standen
auf den Schecks.
Doch Ende dieses Monats ist es mit der relativen finanziellen Absicherung
vorbei. Die wöchentlichen Leistungen für Corona-Arbeitslose laufen am 31.
Juli aus. Anschließend wird Elias Alsbergas nur noch 365 und Margarita
Vasquez nur noch 330 Dollar pro Woche bekommen. Dazu kommen bei ihr die
monatlichen 700 Dollar Rente ihres Mannes. Dass niemand in den USA mit so
wenig Geld Essen, die Wohnung und Gesundheitsversorgung bestreiten kann,
ist auch den Politikern in Washington klar. Aber die beiden Parteien
streiten über das richtige Vorgehen. Die meisten Demokraten verlangen eine
neue Konjunkturhilfe und weitere staatliche Zusatzzahlungen zum
Arbeitslosengeld. Die Republikaner hingegen argumentieren, dass pauschale
Zahlungen die Menschen faul machen würden. Und sie eben dazu verführten, zu
Hause zu bleiben, anstatt zur Arbeit zu gehen.
## Jahresgehalt von 80.000 Dollar
In den zurückliegenden Wochen hat Elias Alsbergas mehr als 30 Bewerbungen
geschrieben. Auf die meisten erhielt er nicht einmal Antworten. Viermal
schaffte er es bis zu virtuellen Interviews. Doch sie führten zu nichts. Er
ist überzeugt, dass er in Zukunft mehr arbeiten und weniger verdienen und
weniger Sozialleistungen bekommen wird als in der Vergangenheit. Als eine
ehemalige Kollegin ihn bittet, ihr dabei zu helfen, ihr persönliches Profil
auf LinkedIn aufzupolieren, versteht er, dass sie sich beide für dieselben
Stellen bewerben. „Der Arbeitsmarkt für uns war schon vorher winzig“, sagt
er, „jetzt ist er noch kleiner“.
Seine Stelle in der Forschungsabteilung der Maschinistengewerkschaft war
ein seltener Glücksfall. Er verdiente ein Jahresgehalt von 80.000 Dollar
und bekam Sozialleistungen, wie sie Millionen Menschen in den USA selbst am
Ende ihres Berufslebens nicht erreichen. Dazu gehörten ein sechswöchiger
Jahresurlaub nach ein paar Jahren im Betrieb, die Aussicht auf eine solide
Altersrente sowie eine Krankenversicherung. Wenige Tage vor seiner
Entlassung – nach einem halben Jahr im Betrieb – bekam er bereits eine
erste Gehaltserhöhung.
Rückblickend ärgert sich Elias Alsbergas dennoch über seine Entscheidung,
die Stelle angenommen zu haben. Denn dafür musste er einen Job bei einer
anderen Gewerkschaft verlassen, der bis heute existiert. Dort verdiente er
zwar weniger, tat aber exakt das, was ihm am liebsten ist: Er mobilisierte
Beschäftigte und half dabei, Gewerkschaften aufzubauen. „Ich habe nicht
strategisch genug gedacht“, wirft er sich vor.
Margarita Vasquez mag ihre Arbeit in der Großküche, wo sie Mahlzeiten
verpackt. Sie vermisst die täglichen Kontakte zu ihren Kollegen, von denen
die meisten aus Lateinamerika, Jamaika und Haiti stammen. Und es lastet auf
ihrem Gemüt, dass es bislang kein Anzeichen dafür gibt, dass die Großküche
wieder in Betrieb geht. Erst Anfang Juli bekam sie einen neuen Anruf mit
der Aufforderung: „Bleiben Sie zu Hause.“
## Zu wenig für Krankenversicherung
Der Flughafen John F. Kennedy ist Margarita Vasquez’ Arbeitsplatz, seit sie
1987 allein mit ihren beiden kleinen Kindern, ohne Englisch zu sprechen, in
New York ankam. El Salvador war zu gefährlich geworden. In New York
reinigte sie Flugzeuge zwischen Landung und Abflug. Es war Nachtarbeit und
schlecht bezahlt. Am meisten fürchtete sie die lange, nächtliche Heimfahrt
im Bus quer durch die Stadt.
Wie schon ihre erste, fand Margarita Vasquez auch ihre zweite Stelle durch
die Vermittlung einer anderen Lateinamerikanerin in New York. Seit 1990
arbeitete sie ununterbrochen für Sky Chefs, den weltweit größten Anbieter
von Bordverpflegung, ein Tochterunternehmen von Lufthansa, das zahlreiche
internationale Fluggesellschaften beliefert. Anfangs hatte sie dort noch
eine Krankenversicherung. Als Sky Chefs diese und andere Leistungen im Zuge
von Sparmaßnahmen im Jahr 2006 strich, verließen manche Kollegen den
Betrieb. Margarita Vasquez blieb. Sie musste für ihre Kinder sorgen: „Was,
wenn ich nichts gefunden hätte?“ Eine Krankenversicherung hat sie heute
nicht mehr. Für die 52 Dollar Versicherungsbeitrag pro Woche aus eigener
Tasche reicht ihr Stundenlohn von 15 Dollar nicht. Sie war schon lange
nicht mehr beim Arzt.
Bei der Gewerkschaft Unite Here, der Margarita Vasquez und die 11.000
anderen Beschäftigten von Sky Chefs in den USA angehören, sind seit dem
Beginn der Pandemie 95 Prozent der Mitglieder arbeitslos geworden. Seit
Monaten kommen keine Mitgliedsbeiträge mehr in ihre Kassen. Und sie musste
einen Teil ihrer eigenen Belegschaft entlassen. Dabei hat die Gewerkschaft
mehr Arbeit denn je. Vielen ihrer 300.000 Mitglieder droht mit dem Ende der
staatlichen Hilfen der soziale Absturz – inklusive Zahlungsunfähigkeit,
Räumungsklagen, Hunger und Obdachlosigkeit.
Unite Here arbeitet an vielen Fronten zugleich. Sie berät ihre Mitglieder
in Mietrecht und gegenüber Banken. Sie wirbt bei Kongressabgeordneten in
Washington für eine Fortsetzung der Konjunkturhilfen an Arbeitslose. Und
sie sorgt in den Betrieben dafür, dass bei einer Rückkehr in die Produktion
die Arbeitsplätze sicher gestaltet werden – mit Sicherheitsabständen,
Trennscheiben, Masken und genügend Reinigungsmitteln.
Für Unite Here ist Sky Chefs eines der Unternehmen in der
Gastronomiebranche, in dem es die größten Probleme gibt. Dennoch plädiert
die Gewerkschaft jetzt bei der US-Regierung dafür, dass Sky Chefs in den
Genuss staatlicher Finanzhilfen kommt. Eine Bundeshilfe zur Lohnfortzahlung
wäre nach Ansicht der Gewerkschaft der beste Weg, um Leute wie Margarita
Vasquez zurück an ihre Arbeitsplätze zu bringen.
Niemand weiß, ob und wann die Fluggesellschaften wieder so viele Passagiere
befördern werden wie vor der Pandemie. Vorerst entlassen auch sie weltweit
Beschäftigte. Es ist auch offen, ob es in Zukunft trotz Ansteckungsrisiken
noch im gleichen Maß Bordmahlzeiten geben wird. Aber die Gewerkschaft
argumentiert, dass die Großküchen, wenn sie erst einmal die Beschäftigten
zurück an ihre Arbeitsplätze holen, auch für andere kochen könnten. Zum
Beispiel für Schulen und Herbergen.
Bevor er zu seinen Eltern flog, war Elias Alsbergas in Washington fast jede
Nacht auf der Straße und demonstrierte mit anderen Aktivisten von Black
Lives Matter. In Hawaii zog er sich zurück. In den zurückliegenden Wochen
hat er Freunde getroffen, hat mit seinem Labradorhund Leela gespielt und
ist vor wenigen Tagen mit seiner Mutter, die ebenfalls in der Pandemie ihre
Arbeit verloren hat, nach Waikiki geradelt. Aber das „tiefe Gefühl von
Hoffnungslosigkeit“ ist er nicht losgeworden. „Eine Entlassung wegen einer
Pandemie ist verheerend“, sagt er. Auch wenn es ihm besser geht als
Millionen anderen: „Ich bin jung, habe einen Universitätsabschluss, habe
Ersparnisse und eine Familie, die mich unterstützt.“
Als er Ende Juni nach Washington zurückfliegen will, stellt er fest, dass
sich die Corona-Neuinfektionsraten auf dem Kontinent seit seiner Abreise
fast verdoppelt haben. Er verlängert seinen Aufenthalt in Hawaii. Aber bis
zum Ende dieses Monats will er zurück sein. In Washington lebt sein Freund.
Und dort sieht auch Elias Alsbergas seine eigene berufliche Zukunft. Er
will sich verstärkt auf die Suche nach einer Arbeit begeben.
## Sie betet zu Gott
Von der Regierung erwartet der 23-Jährige nicht die geringste Hilfe. Die
hat seines Erachtens seit dem Beginn der Pandemie fast alles falsch
gemacht, was sie falsch machen konnte. Nicht nur gesundheitspolitisch,
sondern auch auf dem Arbeitsmarkt – da hätte sie, findet er, die Löhne
weiterzahlen lassen und einen Grundlohn einführen müssen, um die
Massenarbeitslosigkeit zu verhindern.
Von den Beschäftigten in der Großküche am Flughafen John F. Kennedy sind in
den zurückliegenden Wochen fünf an den Folgen von Covid-19 gestorben. „Wir
alle hätten besser geschützt werden müssen“, sagt Margarita Vasquez.
Kollegen, die nach Deutschland gereist sind und dort Sky-Chefs-Küchen
besucht haben, bevor Lufthansa das deutsche Tochterunternehmen im
vergangenen Jahr verkauft hat, haben von Arbeitsbedingungen und Löhnen
berichtet, die um Klassen besser waren als in New York, Florida und Texas.
Jetzt betet Margarita Vasquez „zu Gott“. Damit die Pandemie endet. Damit
ihr Mann, ihre Kinder und sie sich nicht anstecken. Damit die Bank ihr
einen weiteren Zahlungsaufschub für die Hypotheken gewährt. Damit ihre
Mieter wieder Arbeit bekommen und Miete zahlen können. Und damit sie selbst
in die Großküche zurückkehren kann.
18 Jul 2020
## AUTOREN
Dorothea Hahn
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
USA
Arbeitslosigkeit
US-Wahl 2024
USA
USA
Schwerpunkt Rassismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Mieterschutz in New York: Wenn zum Wohnen nichts mehr bleibt
Ein Viertel zahlt nicht mehr die volle Miete. Bislang waren die New
YorkerInnen in ihren Wohnungen trotzdem halbwegs geschützt. Das ändert sich
bald.
Vorwürfe gegen US-Tageszeitung: „New York Times“ streitet um Kurs
Eine Meinungsredakteurin beklagt ein „illiberales“ Klima bei der „New York
Times“ – und kündigt. Zwischen Jungen und Alten herrsche ein „Bürgerkri…
Corona in USA: Kalifornien wieder dicht
Täglich 8.000 gemeldete Corona-Fälle: Der US-Bundesstaat Kalifornien kehrt
nach einem massiven Anstieg von Infektionen zu Schließungen zurück.
Busfahrer über Widerstand in Minneapolis: „Die Polizei ist rassistisch“
In Minneapolis weigern sich Busfahrer:innen, festgenommene Protestierende
abzutransportieren. Adam Burch hat diese Aktion angestoßen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.