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# taz.de -- Die Wahrheit: Das Auge in den Rauchmeldern
> Überwachung als Lebenshilfe: Was würde Jesus tun, wenn er wüsste, dass er
> beobachtet wird? Würde er eine Bank überfallen oder eine gründen?
Bild: Ein kleiner Handgriff und schon kann es losgehen mit der Überwachung
„Wenn ich morgens aufwache“, sagt Christian Borchert, „winke ich erst mal
zur Zimmerdecke und sage ganz laut: Guten Morgen, Frau Merkel.“
Christian Borchert wurden vor ein paar Tagen Rauchmelder in seiner Wohnung
installiert. Denn bis zum Ende des Jahres müssen alle Wohnungen damit
ausgestattet sein. Pro Zimmer ein Gerät, außer in Küche und Bad. „Und da
ist so ein blinkendes Lämpchen dran und natürlich auch eine Kamera“, sagt
er.
Christian Borchert wird überwacht. „Von wem, weiß ich natürlich nicht.“
Aber von wem soll er schon überwacht werden? Selbstverständlich von
deutschen und amerikanischen Geheimdiensten und vielleicht auch von großen
Firmen wie Microsoft, Apple und Amazon und vielen anderen.
„Nein“, sagt der fast zwei Meter große, dünne Mann mit dem schütteren
Haupthaar ein bisschen traurig, „von Apple nicht. Das kann ich mir leider
nicht leisten.“
## Schon ganz lange
Christian Borchert wird schon sehr lange überwacht.
„Schon ganz lange“, sagt er, „da gab’s noch gar keine Handys und kein
Internet. Aber überall auf der Straße und auf den Plätzen und Kreuzungen
wurden ja schon Kameras hingebaut und am Telefon wurde mitgehört. Die
ganzen Abhöranlagen aus dem Kalten Krieg, die waren ja noch da und wurden
auch genutzt. Und meine Post wurde wahrscheinlich auch gelesen.“
Wieso Christian Borchert überwacht wird, weiß er nicht.
„Nein, wieso ich überwacht werde, weiß ich nicht. Ich habe schon ein par
Mal nachgefragt, aber da kriegt man ja keine richtige Auskunft oder gar
keine. Die meisten Geheimdienste schreiben: ‚Sehr geehrter Herr Borchert,
danke für Ihre Anfrage und für Ihr Interesse an unserer Arbeit, aber leider
können wir Ihnen keine Auskunft geben, ob und wieso wir Sie ggf.
überwachen. Mit freundlichen Grüßen …‘ und so weiter. Aber was sollen sie
auch anderes schreiben? Wahrscheinlich werde ich überwacht, weil wir ja
alle überwacht werden.“
## Lagerist mit Koller
Früher hatte Christian Borchert depressive Schübe und auch sonst ging es
dem alleinstehenden 47-jährigen Lageristen bei einem großen Logistikkonzern
nicht besonders gut. „Aber seit ich überwacht werde, geht’s mir besser. Und
seit ich den Rauchmelder habe“, sagt Borchert. „da wache ich morgens auf
und zwinge mich sofort zu lächeln und fröhlich in die Kamera zu winken. Ich
weiß natürlich, dass Frau Merkel sich das nicht persönlich anschaut.
Vielleicht schaut sie ab und zu mal in die eine oder andere Übertragung
rein. Aber da ist es doch ganz schön, wenn der eine oder andere Bürger mal
in die Kamera winkt und was Nettes sagt.“
Auch bei Online-Bestellungen und bei den Sozialen Medien meldet er sich
immer mit seinen richtigen Daten an. Keine Falschnamen, keine falschen
Mailadressen. Seine Webcam am Rechner klebt er auch nicht ab. „Das ist eine
Kamera von wie viel Hunderten, die mich jeden Tag aufnehmen, auf der
Straße, in der U-Bahn, im Bus, in den Geschäften, auf dem Klo meines
Lieblingscafés um die Ecke – das wäre doch sinnlos, genau diese eine
zuzukleben. Außerdem sieht es dann so aus, als hätte ich was zu verbergen.“
Manchmal, wenn er vor dem Rechner sitzt, schaut er in die Kamera, sagt:
„Hallo“, und erzählt kurz, was er den ganzen Tag gemacht hat. „Aber das
wissen die ja ohnehin schon.“
## Merkel heute nicht da
Aber nicht überall, wo Kamera draufsteht, ist auch Merkel drin.
„Viele der Kameras sind Fake-Kameras“, sagt Ingolf Scholz,
stellvertretender sicherheitspolitischer Sprecher der Bundesregierung.
„Gerade im privaten Bereich können sich viele Menschen, aber auch
Geschäftsleute eine ausreichend gute Kameraüberwachung gar nicht leisten.
Die kaufen sich dann eine Kameraattrappe und hängen Schilder auf: Achtung!
Videoüberwachung! Das dient vor allem der Abschreckung. – Aber es ist
natürlich möglich, eine Public-Private Partnership mit einem unserer
Nachrichtendienste einzugehen. Dann stellt der jeweilige Nachrichtendienst
das Equipment, im Gegenzug dürfen wir dann die Daten, die erhoben werden,
sammeln und auswerten.“
Gibt es da Interesse?
„Gerade im ländlichen Raum im Süden unseres Landes wird das durchaus
nachgefragt. Das Problem ist freilich, dass all unsere Nachrichtendienste
halt immer noch Ämter sind. Und da ist die Beschaffung von Technik und
Dienstleistung, wie es immer bei Ämtern ist. Es muss eine Ausschreibung
geben, es gibt ein Entscheidungsverfahren. Zwischen den Geheimdiensten ist
halt nicht alles kompatibel. Wir haben fünf verschiedene Systeme, die auf
drei unterschiedlichen Betriebssystemen laufen. Manche Daten müssen immer
noch händisch übertragen werden, sofern es überhaupt zu einem
Datenaustausch kommt. Die einzelnen Dienste misstrauen einander ja. Und
zwei spionieren sich sogar gegenseitig aus und schieben sich falsche
Informationen unter.“
## Details interessieren nicht
Details, die Christian Borchert nicht interessieren – und die er auch nie
erfahren wird. Wichtig für ihn ist, das die Überwachung ihm im Alltag
hilft, etwa bei schweren Entscheidungen.
„Manchmal stehe ich vor schweren Entscheidungen“, sagt er. „Dann hilft es
mir sehr, wenn ich weiß, jemand schaut auf mich, sieht mir sozusagen über
die Schulter, ist an meiner Seite und hilft mir, wie ein – großer Bruder
vielleicht. Wenn ich zum Beispiel – also nur zum Beispiel, nicht, dass ich
das wirklich vorhätte“, er lacht, „wenn ich also in Geldnot wäre und liefe
zufällig an einer Bank vorbei, dann käme ich vielleicht auf die Idee, diese
Bank zu überfallen. Aber nun weiß ich ja, die Bank wird videoüberwacht.
Also frage ich mich: Was würde Jesus tun, wenn er wüsste, dass in der Bank
Kameras sind und er überwacht wird. Er würde die Bank sicher nicht
überfallen. Also tu ich das auch nicht.“
Hat Borchert nicht Angst davor, dass er fälschlicherweise beobachtet wird?
## Gute Nacht, Angela! Gute Nacht, Christian!
„Nein, ich glaube nicht, dass das vorkommt. Die Menschen in den
Geheimdiensten arbeiten sicher sehr gewissenhaft, die nehmen da ja nicht
jeden. Ich hatte mich auch mal beworben, wurde aber nicht genommen. Ich
werde jetzt seit fast dreißig Jahren überwacht, aber noch nie hat mich ein
SEK nachts aus dem Bett geholt.“ Er wirkt erleichtert. „Manchmal surfe ich
im Internet und kriege Werbung von Anwälten gezeigt. Dann denke ich schon:
Hupps, und bin schwupps zurück auf dem Pfad der Tugend.“
Damit verabschiedet sich Christian Borchert, winkt noch einmal in die
Kameraattrappe an der Decke und verlässt das Café um die Ecke.
Wenn er heute Abend schlafen geht, wird er Frau Merkel eine gute Nacht
wünschen, ehe er beruhigt einschläft, weil man auf ihn aufpasst. Auf ihn
und mehr als 80 Millionen andere.
13 Jul 2020
## AUTOREN
Michael-André Werner
## TAGS
Schwerpunkt Überwachung
Überwachungstechnik
Geheimdienst
Polizei
Eskalation
Schwerpunkt Coronavirus
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