# taz.de -- Festival Theaterformen in Braunschweig: Isolation, meerumspült | |
> „A Sea of Islands“ heißt die coronabedingte Ausgabe des Festivals | |
> Theaterformen in Braunschweig. Groß ist das Meer, klein der Bildschirm. | |
Bild: „Thirst“ von Voldemārs Johansons (Riga/Lettland) im großen Haus des… | |
Unentwegt bäumt sich das Meer auf. Sturmgepeitscht tanzt die Gischt | |
ekstatisch auf den wogenden Wellen. Selten gleitet mal eine winzige | |
Vogelsilhouette durchs extrem dynamische Landschaftsbild. Das sich bei | |
zunehmender Betrachtung in ein abstrakt tobendes Farbenspiel verwandelt. | |
Statisch ist die Einstellung des knapp einstündigen Films „Thirst“, wild | |
wütend brodelt das schäumende Geschehen. Aus Lautsprechern dröhnt dazu | |
ohrenbetäubend die Kraft der Natur, als würden gleich nicht nur die Welt | |
bedeutenden Bretter unter einem einbrechen. | |
Auf der großen Bühne des Staatstheaters Braunschweig lässt sich eine | |
Handvoll Meeresbetrachter bedrohen von dem archaischen Spektakel. Geradezu | |
immersiv ist die eigene körperliche Winzigkeit gegenüber der | |
breitwandformatig projizierten Sturmgewalt. Aufgenommen hat sie der | |
lettische Künstler Voldemārs Johansons im Nordatlantik von den | |
Färöer-Inseln aus. Klimawandelängste können beim Betrachten bis in die | |
Apokalypse hineingedacht werden. | |
Diese überwältigend schlichte Videoarbeit ist der einzige Programmpunkt, | |
der fürs 30. Jubiläumsjahr des Theaterformen-Festivals gebucht war und nun | |
auch zu erleben ist. 17 andere Spielplanpositionen mussten | |
coronakrisenbedingt abgesagt oder neu konzipiert werden. Von den 170 | |
geladenen, zumeist außereuropäischen Künstlern konnten nur 14 nach | |
Braunschweig kommen. Trotzdem bekamen alle 50 Prozent ihres Honorars und | |
die Möglichkeit, ihr analoges Projekt noch schnell ins Digitale zu | |
switchen. Abgefilmte Aufführungen waren allerdings tabu. | |
So entstand nach zwei Jahren Planung in zehn Wochen ein komplett neuer | |
Veranstaltungsreigen. Der Festivaltitel „A sea of island“ aber blieb | |
Programm. Nur sind die weltweit eingesammelten Formate zeitgenössischen | |
Theaters anno 2020 eben pandemietaugliche Varianten der Bühnenkunst: | |
[1][Texte zum Lesen, zum Hören, Zoom-Gespräche zum Informieren, Musik zur | |
Erinnerung an Live-Konzerte und natürlich Videos zum Streamen]. | |
Der Kenianer Ogutu Muraya fabuliert beispielsweise fantasievoll und | |
staunend auf Basis seines Stücktextes „The ocean is always trying to pull | |
you in“ über die Geschichte der Komoren-Insel Ndzuwani, nördlich von | |
Madagaskar, und platziert auf der Bildebene einige Zeichnungen. Ein | |
illustriertes Hörbuch, bei dem sich jedwede inhaltliche Dringlichkeit | |
verliert mit der Auflösung der Grenze zwischen Fakt und Fiktion. | |
## Kleine Rituale, etwas verloren | |
Mit einem Tanzsolo in live aufgewirbeltem Salzstaub wollte Eko Supriyanto | |
von seiner javanischen Heimat erzählen – nun schmiegt er seinen Körper für | |
einen Kurzfilm an ein Steinmassiv, tastet herum, verfällt introspektiv in | |
zeremonielle Bewegungsmuster und füßelt schließlich in einen Fluss. Wie | |
neugeboren wirkt er im nassen Ursprung des Lebens. Mit diesen kleinen | |
Filmen wirkt das Festival etwas verloren, ist doch sonst die intensive | |
Begegnung mit Menschen als Zeugen der Geschichte das Herzensanliegen. | |
Auch die fünf installativen Arbeiten vor Ort verzichten konsequent auf die | |
Live-Begegnungen mit Schauspielern, Tänzern, Sängern und Zuschauern, weil | |
Menschenansammlungen und Partizipation aktuell ein No-Go ist. „Bei den | |
Theaterformen gibt es dieses Jahr wirklich kein Theater“, bestätigt | |
Leiterin Martine Dennewald das Ersatzkonzept fürs derzeitige Ersatzleben. | |
## Angebot für den Lockdown | |
Es konnte ja niemand wissen, dass gerade in der Festival-Eröffnungswoche | |
auch in Niedersachsen wieder Mund-Nasen-Bedeckungs-freie Ko-Präsenz von | |
Publikum und Künstlern in Bühnenräumen erlaubt werden würde. „Wir mussten | |
unsere Angebote so gestalten, dass alles auch bei Fortsetzung eines harten | |
Lockdowns möglich wäre“, erklärt Dennewald. | |
Covid-19 bestimmt zwar die Ausdrucksformate, gibt aber nicht die Inhalte | |
vor. Inseln sollten aus der Aufmerksamkeitsperipherie in den Fokus gerückt | |
werden – von Meeren umspülte Isolationsorte, eingebunden in globale | |
Zusammenhänge. Fürs Festival zu retten galt es die daraus resultierenden | |
Themen der Produktionen, die mit Theatermitteln nach Wirklichkeit fragen | |
und Wissen vermitteln wollten. | |
Silke Huysmans und Hannes Dereere hatten einen „Smartphone-Slam“ | |
angekündigt, auf Nauru gemachte Interviewaufnahmen sollten davon erzählen, | |
wie das einstige Südseeparadies durch den Phosphatabbau in eine | |
Mondlandschaft verwüstet wurde und heute als Lager für Geflüchtete dient, | |
die Australien nicht ins Land lassen will. Statt Dokumentartheater zu | |
erleben, kann jeder Interessierte jetzt einen Brief ordern, in dem das | |
Künstlerduo vom Rechercheergebnis berichtet. | |
Da auch von Rimini Protokoll gecastete Kubaner mit „Granma. Posaunen aus | |
Havanna“ nicht in persona über den Wandel des altkommunistischen | |
Inselreichs räsonieren dürfen, schicken sie Notate eines Performers und das | |
Programmheft des koproduzierenden Gorki Theaters frei Haus. Besser als | |
nichts … | |
Nach Braunschweig reisen muss, wer die Arbeit der Kapverdin Marlene | |
Monteiro Freitas sehen will. Eine „ekstatische Tanzperformance zur | |
Ambivalenz des Bösen“ wäre ihr Festivalbeitrag gewesen, nun bastelt sie | |
Notenständer-Formationen in allerschönster Verbogenheit ins Kleine Haus und | |
verfeinert den Anblick mit Theatereffekten: Blitze zucken, Nebel wallt, | |
Suchscheinwerfer kreiseln. | |
## Was Menschen gerade nicht dürfen | |
Die metamorphen Notenständer machen stoisch das, was Menschen gerade nicht | |
dürfen, sie bilden Gruppen, stehen etwa wie eine Cyborgs-Armee in Reih und | |
Glied oder hocken zusammen wie Kinobesucher vor einer Leinwand. Weitere der | |
feingliedrigen Objekte liegen in braun gefärbten Windeln in einer Art | |
Säuglingsstation oder sind zu einem Stern sowie einer Krake | |
zusammengesteckt. Wie eine archäologische Ausgrabungsstätte mutet diese | |
Rauminstallation „Cattivo“ an, erinnert mit den eingefrorenen Momenten | |
geradezu utopisch an vorcoronale Normalität. | |
Dorthin zurück wollen romantischen Herzens auch Lotte Lindner und Till | |
Steinbrenner, lassen sie doch im Stadtraum Flaggen flattern, in schwarzer | |
Schrift auf weißem Tuch stehen dort Anweisungen wie „bewundert Blumen“, | |
„sprecht zärtlich“, „überwindet euch“, „fallt in Trance“ oder „… | |
Träume laufen“. | |
[2][Dennewald war zum sechsten und letzten Mal Kuratorin der Theaterformen | |
– eine erfolgreiche Zeit]. Gerade weil sie im Zweifel nicht ästhetische | |
Novitäten, sondern politisch forsche Ansätze präferierte, etwa bei der | |
Suche nach postkolonialen Verstrickungen unseres Alltags sowie mit wütend | |
idealistischen Bühnendiskursen zu Flucht und Migration. | |
Selbstverständlichkeiten des Theatermachens wollte die Dramaturgin zudem in | |
Frage stellen. | |
Etwa die Tatsache, dass im Festivalzirkus vor allem Künstler engagiert | |
werden. Deswegen lud sie für die Ausgabe 2017 nur Arbeiten von | |
Künstlerinnen ein. Um Flugkilometer zu reduzieren, also den ökologischen | |
Fußabdruck des Festivals zu verbessern, ließ Dennewald 2019 statt | |
kompletter Compagnien nur Regieführende anreisen und dann wochenlang | |
exklusive Projekte mit multinational geprägten Menschen vor Ort entwickeln, | |
Globalisierung im Lokalen aufzeigen. | |
Und was ist ihr bei jährlich 300 Aufführungsbesuchen aufgefallen? In vielen | |
Ländern würde der Tanz immer konzeptioneller und das Dokumentartheater | |
boome, beschreibt Dennewald die europäischen Einflüsse auf allen | |
Kontinenten. Warum klappt das nicht andersherum mit der Inspiration? Wäre | |
das nicht eine Aufgabe der Theaterformen? Wie in den Ausrichterstädten | |
Hannover und Braunschwieg Theater gemacht werde, orientiere sich an dem, | |
was in Berlin laufe, erklärt Dennewald. Es sei folgenlos, wenn sie einmal | |
Toshiki Okada einlade wie 2016, aber vielleicht zeige es Wirkung, dass | |
Matthias Lilienthal den japanischen Regisseur viermal für die Münchner | |
Kammerspielen engagierte. Das habe vielleicht auch Folgen in Berlin und so | |
dann irgendwann auch an der Oker und der Leine. | |
Dennewalds Nachfolgerin kommt gleich direkt aus Berlin: Anna Mülter, | |
zuletzt Tanzkuratorin und -dramaturgin für die Sophiensäle und Leiterin der | |
Tanztage in Berlin. | |
8 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.theaterformen.de/de/programm/a-sea-of-islands | |
[2] /Theaterfestival-in-Braunschweig/!5309271 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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