# taz.de -- Theaterfestival: Neue Übersichtlichkeit | |
> Die Theaterformen in Hannover experimentieren abseits des Mainstream: mit | |
> Zirkus, Musical, wundersamen Stadtraumexpeditionen und Workshops mit | |
> internationalen Gästen. | |
Bild: „Thirst“ von Voldemārs Johansons (Riga/Lettland) im großen Haus des… | |
Der 7. Juli 2005 in London schien ein gewöhnlicher Tag zu sein: eine junge | |
Frau gibt ein Firmengeheimnis an einen Konkurrenten weiter; ein Uni-Dozent | |
verleitet seine jobsuchende Exassistentin zu einem demütigenden Tanz; zwei | |
Brüder landen nach einem Besäufnis beim Inzest und ein Selbstmordattentäter | |
fährt zu seinem Einsatz, bei dem später 52 Menschen ihr Leben verlieren. | |
Simon Stephens Stück "Pornographie", das als Koproduktion des Hamburger | |
Schauspielhauses mit dem schauspielhannover beim Festival Theaterformen | |
uraufgeführt wurde, lässt in sieben szenischen Momentaufnahmen das Leben | |
der Stadt London an diesem Tag vorbeigleiten. Was sich wie eine Ansammlung | |
atmosphärischer Fragmente anhört, entpuppt sich in Stefan Nüblings | |
Inszenierung als seismografische Bestandsaufnahme westlicher Kultur. Die | |
Schauspieler arbeiten an einer bühnenbeherrschenden Puzzlewand von | |
Brueghels "Der Turmbau zu Babel" und geben sieben "Sünden" des Alltags zu | |
Protokoll. Es geht um Machtmissbrauch, Inzest, Verrat, Hass, Mord, | |
Einsamkeit und der Attentäter ist dabei keineswegs Außenseiter, sondern | |
Teil der Gesellschaft. Nübling lässt das ohne apokalyptisch auftrumpfenden | |
Ton, sondern eher leise ausagieren und schafft so einen beeindruckende | |
Inszenierung, an deren Ende die Liste der 52 Toten verlesen wird. | |
"Pornographie" im vertrauten Stadttheaterformat bildet bei den | |
"Theaterformen" quasi eine Art ästhetische Referenzgröße, an der die | |
Eigenart der anderen Produktionen ablesbar wird. So einfach das klingen | |
mag, der neue Leiter Stefan Schmidtke hat zunächst den Festivalnamen | |
wörtlich genommen und die Variationsbreite theatraler Repräsentation | |
ausgelotet. Anders als seine Vorgängerin verzichtet er dabei auf den | |
hiesigen Avantgarde-Mainstream von Marthaler bis Simons; fündig geworden | |
ist er eher beim Zirkus, beim Musical oder bei der wundersamen | |
Stadtraumexpedition "small metal objects" des australischen Back to Back | |
Theatre. Die Zuschauer sitzen mit Kopfhörern auf einer Tribüne in Hannovers | |
unterirdischer Niki-de-Saint-Phalle-Promenade und hören den beiden Dealern | |
Steve und Gary zu, die mitten unter den Passanten über Einsamkeit, Katzen | |
und Sonntagsbraten reden, bis ein Immobilienspekulant und eine Psychologin | |
Stoff kaufen wollen. Eine simple Geschichte, die aber ein merkwürdiges | |
Wechselspiel von Alltag und Theatralität in Gang setzt: unbeteiligte | |
Passanten blicken auf die Theaterzuschauer, die wiederum suchend | |
zurückblicken, weil zwischen den Passanten versteckt die Aktion | |
stattfindet. So entsteht ein seltsamer Rückkopplungseffekt beim | |
fortwährenden Abscannen der Realität nach ihrer theatralischen Attraktion. | |
Es geht dabei aber noch um etwas anderes. In "small metal objects" stehen | |
behinderte und nicht behinderte Schauspieler auf der "Bühne" und der | |
bruchlose Übergang zwischen Theater und Alltag spiegelt zugleich den | |
schmalen Grat zwischen Normalität und Besonderheit; die Behinderung | |
changiert zwischen theatralischer Aktion und Realität. Kein Festival ohne | |
die Überforderung durch eine Unzahl von Begleitveranstaltungen. Die letzten | |
Theaterformen im Jahr 2004 sorgten mit fast 70 Beiprogrammen für einen | |
regelrechten diskursiven Overkill. Stefan Schmidtke hat hier für neue | |
Übersichtlichkeit gesorgt und viele Aktivitäten in der neu eingerichteten | |
Internationalen Theaterwerkstatt gebündelt. | |
Einerseits werden hier junge Theaterprojekte in anderen Ländern gefördert | |
wie die New Yorker Produktion "Songs of the Dragons flying to heaven". Die | |
amerikanisch-koreanischen Regisseurin Young Jean Lee nimmt darin den | |
allgegenwärtigen Rassismus der US-Gesellschaft, aber auch die | |
Unterwürfigkeit der Minderheiten aufs Korn. In einem Holzkabinett geraten | |
ein westlich gekleidetes Alter Ego der Autorin und drei traditionell | |
angezogenen Koreanerinnen aneinander; bissiger Sarkasmus trifft auf | |
klischierte Lächeloffensive. Beides geht schließlich in den endlosen | |
Beziehungsdiskussionen eines weißen Paares unter. Trotz Tiefbohrungen im | |
Treibsand kultureller Identität, die Drachenflüge können weder | |
dramaturgisch noch schauspielerisch überzeugen. | |
Zweites Standbein der Internationalen Theaterwerkstatt ist ihre Rückbindung | |
in der Stadt Hannover mit Hilfe von Workshops. So gibt das Back to Back | |
Theatre Einblicke in seine Arbeit mit behinderten Menschen; die kanadische | |
2b theatre company wiederum veranstaltet einen Kurs zu Recherche und | |
szenischem Schreiben am Beispiel ihres Stücks "Revisited", das auf der | |
Grundlage von Thornton Wilders "Unsere kleine Stadt" ein Wunderwerk der | |
Theateralchimie vorstellt. | |
28 Zuschauer sitzen in einem dunklen Raum um einen Tisch und lassen sich | |
von einem Schauspieler und einer Schauspielerin die Geschichte von Tom und | |
Lucy in einem kleinen Dorf erzählen: Es geht um fundamentale Dinge wie | |
Geburt, Liebe, Familie und Tod. Die fast mythische Einfachheit des Plots | |
findet ihr Pendant in der Einfachheit der Theatermittel. Mit ein bisschen | |
Sand wird die Dorfstraße auf dem Tisch markiert, eine Schürze macht den | |
Schauspieler Steven McCarthy zur Mutter von Lucy, die Liebenden fensterln | |
von Tischende zu Tischende - alles zielt auf die Imaginationskraft des | |
Theaters, dem mit der Dunkelheit des Raumes, der punktuellen Beleuchtung, | |
dem Theaternebel zugleich etwas Sakrales verliehen wird: Es geht um | |
ästhetische Transsubstantiationsprozesse. Auch wenn man sich anstelle der | |
Epiphanie des Dorflebens etwas mehr "Dogville"-Spirit gewünscht hätte - | |
eine Inszenierung, deren Konzentration, Eindringlichkeit, Humor und | |
Ernsthaftigkeit zur Halbzeit jedenfalls als symptomatisch für die neuen | |
Theaterformen gelten können. | |
20 Jun 2007 | |
## AUTOREN | |
Hans-Christoph Zimmermann | |
## TAGS | |
Theater | |
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