| # taz.de -- Die Wahrheit: Inzest mit Klappzylinder | |
| > Was macht man, wenn man die eigene Grafschaft wie seine Westentasche | |
| > kennt? Man bleibt zu Hause und mistet aus. Auch den geerbten adligen | |
| > Kram. | |
| Die Restriktionen wegen der Coronakrise sind in Irland gelockert worden – | |
| ein bisschen. Wir dürfen uns jetzt in der ganzen Grafschaft frei bewegen. | |
| Das County Clare im Westen Irlands, wo wir wohnen, ist 3.450 | |
| Quadratkilometer groß. Wer in Louth wohnt, ist angeschmiert. Die kleinste | |
| aller Grafschaften hat gerade mal 826 Quadratkilometer. | |
| Was macht man, wenn man die eigene Grafschaft wie seine Westentasche kennt? | |
| Man bleibt zu Hause und mistet aus. Es ist erstaunlich, was man dabei | |
| findet. Einen Muff zum Beispiel. Das ist ein röhrenförmiger Pelzhandschuh. | |
| Das war bis Mitte des 20. Jahrhunderts ein Kleidungsstück für Frauen des | |
| Bürgertums. Ich habe ihn von meiner Großmutter geerbt. | |
| Die wiederum hatte den Muff um 1910 von Kronprinzessin Cecilie von Preußen | |
| geschenkt bekommen. Die Prinzessin war Kundin im Berliner Kaufhaus Gerson, | |
| wo der tschechische Vater meiner Oma, František Nestl, also mein | |
| Urgroßvater, Chefschneider war. Das Kaufhaus Gerson wurde 1936 von den | |
| Nazis arisiert, im Zweiten Weltkrieg wurde es zerstört. Heute steht an der | |
| Stelle ein Hotel. | |
| Mein Urgroßvater war für die Kleidung von Cecilie zuständig, und weil meine | |
| Oma ihn oft im Kaufhaus besuchte, schenkte die Prinzessin der damals | |
| Zwölfjährigen den Muff. Cecilies Schwiegervater, Kaiser Wilhelm II., ließ | |
| sich bei Gerson seine Fracks anfertigen. Es mussten immer drei Exemplare | |
| geschneidert werden, von denen er sich das beste aussuchte. | |
| ## Chapeau Claque ab | |
| Einen der Fracks, die er nach der Anprobe abgelehnt hatte, kaufte mein | |
| Urgroßvater. Später schenkten meine Großeltern das Kleidungsstück dem Roten | |
| Kreuz, aber den zugehörigen Chapeau Claque, den Klappzylinder, habe ich | |
| beim Ausmisten gefunden. | |
| Als Teenager traf ich Cecilies Sohn Louis Ferdinand. Na ja, fast. Meine | |
| Freunde und ich schwammen oft im Halensee. Von der Wiese an der | |
| Autobahnabfahrt konnte man zum Freibad hinüberschwimmen und sparte das | |
| Eintrittsgeld. Unterwegs kam man an der Villa des Prinzen vorbei, und | |
| manchmal sah man ihn mit seiner Frau Kira, der Urenkelin des russischen | |
| Zaren Alexander II., im Garten. | |
| Louis Ferdinands Ururgroßmutter, Kaiser Wilhelms Oma, war Königin Victoria | |
| von Großbritannien und Irland. Deren Vorfahren haben früher wohl auch in | |
| Irland ihr Unwesen getrieben. Analysen eines Schädels, den man kürzlich in | |
| dem 5.000 Jahre alten Ganggrab Newgrange nördlich von Dublin fand, haben | |
| ergeben, dass der Besitzer einer Herrscherkaste angehörte. Seine Eltern | |
| waren entweder Bruder und Schwester, oder ein Elternteil war das Kind des | |
| anderen. An diesem herrschaftlichen Brauch, wenn auch in abgeschwächter | |
| Form, hat sich bei den Adelshäusern bis heute nicht viel geändert. | |
| Wenn ich mir den preußischen Klappzylinder aufsetze, weht mich der kühle | |
| Hauch der inzestuösen Sippe an. Den Muff werde ich indes behalten. Der | |
| nächste Winter könnte kalt werden. | |
| 29 Jun 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Sotscheck | |
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