| # taz.de -- Wohlfahrt in der Corona-Pandemie: Russen sind spendabel | |
| > Ökonomen befürchten in Folge der Pandemie ein starkes Wachstum von Armut. | |
| > Hilfe kommt nicht vom Staat, sondern von Wohlfahrtsverbänden. | |
| Bild: Spenden – in Russland sehr verbreitet | |
| Moskau taz | „Es sieht düster aus. Wir stehen vor einem sozialen Desaster“, | |
| meint Dmitri Aleschkowski. Bis Jahresende drohe [1][Russland im Zuge der | |
| Corona-Pandemie] eine Welle von zehn Millionen Arbeitslosen, fürchten | |
| russische Ökonomen. „Mit den 20 Millionen Bürgern, die bereits unter dem | |
| Existenzminimum lebten, wächst die Zahl der Hilfsbedürftigen auf 30 | |
| Millionen“, sagt Aleschkowski. | |
| Der 35-jährige ist eine Art Wohlfahrtsunternehmer und weiß, wovon er | |
| spricht. 223 Organisationen und private Initiativen zählten vor der | |
| Corona-Krise zu seinem Hilfsfonds „Pomoschtsch nuschna“ (Hilfe nötig). | |
| Inzwischen sind noch 80 Einrichtungen dazu gestoßen. Denn immer mehr | |
| menschen geraten in Not und rutschen unter die Armutsgrenze, die im Moskau | |
| bei umgerechnet 218 Euro und im Rest des Landes bei 143 Euro monatlich | |
| liegt. | |
| Früher versorgten die Helfer im Monat etwa 100.000 Bedürftige mit | |
| Lebensmitteln, Medikamenten und Kleidung, erzählt Aleschkowski, der früher | |
| als Journalist und Fotograf bei der staatlichen Agentur Tass gearbeitet | |
| hat. Heute leitet er den Hilfsfond Pomoschtsch, eine der zehn größten | |
| russischen Wohlfahrtseinrichtungen. | |
| Das Spendenaufkommen in Russland kann sich sehen lassen. Mehr als 250.000 | |
| Gönner hinterlassen monatlich einen Obulus bei Pomoschtsch. Meist kleinere | |
| Beträge von 200 Rubel (2,50 Euro). Das Prinzip basiere auf geringen, jedoch | |
| regelmäßigen und sehr vielen Spenden, meint Aleschkowski. | |
| ## Spenden sehr verbreitet | |
| Im Juli 2012 organisierte er Hilfe für die Opfer der [2][Flutkatastrophe im | |
| Krymsk], bei der 170 Menschen ums Leben kamen. Er kümmerte sich um den | |
| Einsatz der mehr als 1.000 freiwilligen Helfer und versorgte die Menschen | |
| in der überfluteten Kaukasusregion mit Kleidung und Nahrung. Das war auch | |
| der Startschuss für die Initiative „Hilfe nötig“. | |
| „Spenden ist bei uns sehr verbreitet“, sagt er. Die Russen seien alles | |
| andere als knausrig. Seit der Corona-Krise sei die Spendenbereitschaft | |
| sogar noch gestiegen: „Unser Fonds ist transparent, wir legen über jeden | |
| Rubel Rechenschaft ab“. Das mache wohl auch den Unterschied zur Bürokratie | |
| aus, vermutet er. Die Menschen in Russland verließen sich nur ungern auf | |
| den Staat, sie trauten nur sich selbst, fasst Aleschkowski die weit | |
| verbreitete Skepsis zusammen. | |
| Ohne [3][Unterstützung aus der Zivilgesellschaft] sei die Betreuung der | |
| Schwächeren ohnehin nicht mehr möglich. Corona habe die Abhängigkeit des | |
| Staates von den Initiativen noch einmal verstärkt. Das sei auch eine | |
| Chance, hofft Aleschkowski: Die Gesellschaft organisiere sich selbst und | |
| könne sich selbstbewusster einmischen. | |
| ## Neuerung: Spenden von der Steuer absetzbar | |
| Doch bis dahin sei es noch ein langer Weg. „Du musst ein Held sein, um dich | |
| über Wasser zu halten“. Überleben sei in Russland ein ständiger Kampf. | |
| Schon die Schriftsteller Fjodor Dostojewski und Nikolai Gogol beschrieben | |
| im 19. Jahrhundert den zermürbenden Kampf des kleinen Mannes für die | |
| Erfüllung elementarer Bedürfnisse. „Das ist Russlands Tragödie bis heute�… | |
| meint Aleschkowski. | |
| Nur wenige Anlaufstellen gibt es in Russland für Menschen in Not. Wer Hilfe | |
| suche, müsse sich oft erniedrigen. Dies erklärt er mit dem geringen Wert | |
| eines Menschenlebens in Russland. Dennoch: in der Krise bewegt sich etwas. | |
| Im Mai wurde ein Gesetz verabschiedet, das Zahlungen an | |
| Wohlfahrtseinrichtungen von der Steuer abzugsfähig macht. „Eine tektonische | |
| Verschiebung, ein gigantischer Schritt, der in Zukunft Hilfsorganisationen | |
| Milliarden Rubel verspricht“, jubelt Aleschkowski. | |
| Und noch etwas freut ihn: Der verzweifelte junge Mann, den er erst neulich | |
| in einer Unterkunft seiner Organisation unterbringen konnte, sei schon | |
| wieder ausgezogen. Er habe Arbeit gefunden. Das seien kleine Lichtblicke. | |
| „Dennoch ist das Leben“, sagt er kategorisch, „365 Tage im Jahr für viele | |
| Menschen in unserem Land eine humanitäre Katastrophe.“ | |
| 13 Jun 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus-Helge Donath | |
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