# taz.de -- Die Russen und der Ukrainekrieg: Supermacht statt super Yacht | |
> Putin genießt die Aufmerksamkeit seit Beginn des Ukrainekriegs. Reichsein | |
> allein war ihm zu langweilig. Der dumme Westen versteht es nur nicht. | |
Bild: Der Kreml interessiert viele Russen so wenig wie Burkina Faso | |
Zu Beginn meiner [1][literarischen Karriere] in Deutschland kündigte nicht | |
selten die eine oder andere Regionalzeitung augenzwinkernd meine Lesung mit | |
dem Spruch „Die Russen kommen“ an. Damals in den Neunzigern hatte man vor | |
Russen keine Angst, höchstens vor russischer Mafia, aber nicht vor | |
russischer Armee. | |
Die Brandenburger geben oft ihren Hunden und sogar ihren Autos russische | |
Namen. Mein Nachbar Werner hatte seinen Hund Jurij genannt, nach seinem | |
Brieffreund, den er noch aus der sozialistischen Zeit kannte. Seit Beginn | |
des Krieges in der Ukraine traut sich Werner nicht mehr, seinen Hund in der | |
Öffentlichkeit mit Namen zu rufen, weil gleich die ganze Straße nach ihm | |
guckt. | |
Der andere Nachbar Karl nannte seine Lada Niva „Putin“, den Namen fand er | |
lustig. Er ist mit dem Auto nach München gefahren, Enkelkinder besuchen. | |
Die Enkel erzählten in der Schule, der Opa kam mit Putin aus Brandenburg zu | |
Besuch, danach musste die ganze Schule beinahe evakuiert werden. Und | |
überall, wo ich nun zur Lesung hinfahre, fragen die Menschen mich, was mit | |
den Russen los sei, warum sie so an ihrem Putin hängen. | |
Den [2][Umfragen zufolge wird der Präsident, je nachdem wie man die Frage | |
stellt, von 70 bis 80 Prozent der Befragten unterstützt]. Das Hauptproblem | |
bei diesen Umfragen ist, dass nur sehr wenige Menschen daran teilnehmen. | |
Dieses Problem ist in jedem Land bekannt, überall haben die Menschen | |
Besseres vor, als Fragen von Fremden zu beantworten. | |
## Das entpolitisierte Volk | |
Doch die russische Bevölkerung hat in ihrer Abneigung gegen die Fragebögen | |
einen Weltrekord aufgestellt. 95 Prozent der Befragten wollen die Fragen | |
nicht beantworten. Das sind also 80 Prozent von 5 Prozent, die ihren | |
Präsidenten unterstützen. | |
Warum schweigen die anderen? Das Land führt Krieg, es ist im Notzustand, | |
jede kritische Meinung wird als feindliche Aktion, als Heimatverrat | |
bewertet und kann mit bis zu 15 Jahren Knast bestraft werden. Der | |
Bevölkerung in Russland ist jede Kontrolle über das Handeln der politischen | |
Führung entglitten, es gibt weder freie Medien noch bürgerliche Institute, | |
die ihnen Gehör verschaffen. Und wenn sie nichts wirklich ändern können, | |
ziehen sie es vor, darüber zu schweigen. | |
Ein entpolitisiertes Volk, das ums Überleben kämpft. Die russische | |
Wirtschaft, die der naive Westen zu schwächen, gar zu vernichten versucht, | |
existiert nämlich nicht. Deswegen haben die Sanktionen auch keine Wirkung. | |
Man kann nicht eine Wirtschaft kaputtmachen, die es nicht gibt. Das Geld in | |
der Staatskasse kommt nicht aus der Wirtschaft, sondern direkt aus der Erde | |
durch Verkauf von fossilen Rohstoffen, die als Abfallprodukte aus toten | |
Pflanzen und Tieren von allein entstehen. | |
Das Geld kommt quasi für umsonst. Was der Staat damit macht, entscheidet | |
allein der Präsident. Die Menschen sind auf sich selbst, auf ihre Gärten | |
und kleine Jobs angewiesen, sie sind mit dem nackten Überleben beschäftigt. | |
Das kennen sie von früher und sind daran gewöhnt. | |
## Es hat nichts mit ihrem Leben zu tun | |
Russen auf der Straße zu fragen, was sie von der Politik des Kremls halten, | |
ist das Gleiche, als wenn man in Deutschland Passanten fragen würde, was | |
sie von der Regierung in Burkina Faso halten. Die meisten hierzulande | |
wissen, dass es dort eine Regierung gibt. Was sie genau macht, muss man | |
nicht wissen, es hat nichts mit unserem Leben zu tun. | |
Für die Russen ist der Kreml Burkina Faso. Es war schon vor dem Krieg so, | |
nun bringt die Angst vor der Ausbreitung des Krieges den Westen dazu, eine | |
große Taschenlampe auf Russland zu richten. Die Führung genießt die | |
Aufmerksamkeit. Sie fühlt sich begehrt und gleichzeitig in ihrer Verachtung | |
dem Westen gegenüber bestätigt. | |
Aus russischer Sicht ist der Westen dumm, er kann sich noch immer keinen | |
Reim auf den Krieg in der Ukraine machen. Der Westen denkt rational und | |
sucht immer nach Gewinn. [3][Weiß Putin selbst, was er von der Ukraine | |
will]? Die Ziele des Angriffs wurden immer wieder neu definiert. Anfangs | |
sollte die russischsprachige Bevölkerung geschützt werden, nun wurde diese | |
Bevölkerung mit großer Mühe weggebombt. | |
Eine Zeit lang brachte Putin den Regierungswechsel in der Ukraine als | |
Kriegsziel zur Sprache, dann wollte er die ganze Ukraine denazifizieren, | |
später nur die Hälfte und jetzt gar nicht mehr. Die Nato sollte sich nicht | |
erweitern, am nächsten Tag war die Nato plötzlich egal. Danach kam die | |
schlaue Botschaft, er will Land gewinnen, um mit ukrainischem Territorium | |
sein ohnehin größtes Land der Welt noch größer zu machen. Der Westen | |
versteht das nicht. | |
## Putins Lieblingsrolle als Weltenmacher | |
Was will er mit der kaputten, zerschossenen Ukraine? Ohne fossile | |
Rohstoffe? Die neueste Expertise sagt, er will sich von der Welt | |
abschotten, die Armee der Globalisierungsgegner anführen, dafür hatte er | |
den Krieg begonnen, damit der Westen ihm den Rücken zeigt. | |
Laut seinen geheimdienstlichen Informationen ist der Westen nämlich am | |
Ende, die Globalisierung ist gescheitert, liberale Demokratien müssen ihre | |
Wähler mit Wohlstandsversprechen schmieren, wenn sie wieder gewählt werden | |
wollen, und das macht sie schwächer als Diktaturen, die sich um nichts | |
dergleichen scheren müssen. Putin gefällt sich in der Rolle des | |
Weltenmachers. Reich sein, das hatte er schon, es war auf Dauer langweilig, | |
„Supermacht statt super Yacht“ lautet die neue Parole. | |
Das Problem dabei ist, er wurde wieder von seinen Geheimdiensten falsch | |
informiert. Der Westen ist nicht am Ende, Globalisierung ist nicht | |
gescheitert, fossile Rohstoffe werden durch neue Technologien ersetzt und | |
bleiben in der Erde, mit toten Pflanzen, Tieren und Diktatoren. Demokratie | |
wird sich als fortschrittlicheres Modell weiterentwickeln, um die Menschen | |
außerhalb der goldenen Milliarde mit in die Zukunft zu nehmen. | |
Demokratie kann man bloß nicht exportieren, sie ist kein Werkzeug zur | |
Veränderung der Gesellschaft, sondern ein Produkt ihrer Entwicklung. | |
Demokratien sind wie Gurken, manche reifen früher und die anderen später, | |
man muss nur Geduld haben und zeitig gießen. | |
21 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-scala-hintergrund/audio-wladi… | |
[2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1293274/umfrage/umfrage-zu-d… | |
[3] /Russlands-neue-Militaerstrategie/!5841438 | |
## AUTOREN | |
Wladimir Kaminer | |
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