# taz.de -- Koranschüler in Nigerias Coronakrise: Wie lästige Insekten | |
> In Nigeria gehen kleine Kinder aus bitterarmen Familien zur Koranschulen | |
> und schlagen sich als Bettler durch. Sie sind unsichtbare Opfer der | |
> Coronakrise. | |
Bild: Lehrer an einer islamischen Schule in Kaduna, Nigeria | |
Cotonou taz | Meist werden sie weggejagt wie lästige Fliegen: die kleinen | |
Bettlerkinder, die in schmutzigen T-Shirts mit dreckigen Plastikschüsseln | |
in den Händen durch die Städte im Norden Nigerias ziehen und aus dem Koran | |
rezitierten. Die Almajirai, wie die Koranschüler auf Haussa heißen | |
(Singular: Almajiri), stehen dort, wo viele Menschen zusammen kommen. Nur | |
sehr selten sind auch Mädchen darunter. [1][Sie erbetteln Geld oder | |
Nahrung] für sich und ihre Imame. Jetzt gelten sie als diejenigen, die | |
[2][das Coronavirus] verbreiten. | |
Dass die Koranschüler in Nigeria für Unheil verantwortlich gemacht werden, | |
ist nicht neu. Seit Jahren heißt es, dass sie sich leicht von der | |
Terrormiliz Boko Haram rekrutieren lassen. Nun soll es Covid-19 sein. Die | |
Gouverneure im muslimisch geprägten Norden haben deshalb entschieden, die | |
Kinder in ihre Heimatbundesstaaten zu deportieren. „Sie müssen aus der | |
Obhut ihrer Lehrer zurück in die Obhut ihrer Eltern“, rechtfertigt das | |
Nasir El-Rufai, Gouverneur des Bundesstaates Kaduna, während einer | |
Onlinekonferenz. | |
Freiwillig ist die Rückführung nicht erfolgt. Es wird berichtet, dass an | |
manchen Orten die Polizei die Kinder dazu zwang. In Quarantänezentren | |
gelten die Bedingungen als miserabel und die Kinder werden nicht | |
ausreichend mit Lebensmitteln versorgt. Manche Bundesstaaten weigern sich, | |
Almajirai überhaupt aufzunehmen. Geklärt wurde außerdem nicht, ob sie | |
zurück zu ihren Eltern können. | |
Nun werfen sich Nigerias Bundesstaaten gegenseitig vor, angeblich positiv | |
getestete Kinder zurückzuschicken. Balarabe Musa, früherer Gouverneur von | |
Kaduna, nannte die Aktion in einem Interview „unverantwortlich und gegen | |
die nationale Einheit gerichtet“. | |
Angeheizt hat die Diskussion noch etwas anderes: Wieder einmal wird über | |
ein generelles Verbot des Almajiri-Systems und eine [3][Reform des | |
Bildungswesens] gesprochen. Mehrere Bundesstaaten im Norden Nigerias | |
arbeiten daran bereits. | |
## Das „Almajiri-System“ | |
Das Almajiri-System ist nach Angaben von Sheik Nuruddeen Lemu, Forschungs- | |
und Ausbildungsleiter am Da’wah Institute in Minna im Bundesstaat Niger, | |
300 Jahre alt. Eltern aus ländlichen Regionen schicken ihre Söhne zu Imamen | |
in den Städten, um Religion, Mathematik und Recht zu lernen. | |
Mit der britischen Kolonialzeit und dem Aufbau neuer Verwaltungsstrukturen, | |
staatlicher Schulen und dem Wechsel zu Englisch als Bildungssprache wurden | |
die Koranschulen zunehmend unwichtiger. Auf dem Arbeitsmarkt können | |
Jugendliche mit einer alleinigen Ausbildung in einer Koranschule nicht mit | |
anderen konkurrieren. | |
Dass sich die traditionellen Schulen dennoch halten, liegt an der Armut in | |
den ländlichen Regionen. Auch sei der schlechte Zugang zum Bildungssystem | |
generell mitverantwortlich, sagt Peter Hawkins, Repräsentant des | |
UN-Kinderhilfswerks Unicef in Nigeria. In den vergangenen Jahren haben | |
Angriffe der Terrormiliz Boko Haram dieses Problem noch verschärft: Mehr | |
als 800 staatliche Schulen bleiben im Nordosten des Landes geschlossen. | |
Nach Einschätzung von Gouverneur El-Rufai sind es vor allem die Väter, die | |
ihre Söhne weggeben: Männer, die monatlich über 10.000 Naira (23 Euro) | |
verfügen, davon aber vier Frauen und zehn Kinder ernähren müssten. „Sie | |
geben alle Verantwortung an den Imam ab“, sagt er. Der schickt die Jungs | |
auf die Straßen, damit sie sich die in Kaduna übliche „Mittwochs-Bezahlung�… | |
in Höhe von 200 Naira leisten können, so der Gouverneur. Auch werden die | |
Kinder zu Veranstaltungen geschickt, um Koranverse aufzusagen, was | |
ebenfalls Geld einbringt. | |
Die Grundversorgung der Kinder ist oft miserabel. In mehreren Regionen | |
wurden im vergangenen Jahr sogar Folterkammern entdeckt, die als | |
Koranschulen getarnt waren. Bei Razzien befreite die Polizei Hunderte | |
Jugendliche und junge Erwachsene. Viele hatten Narben von Schlägen, manche | |
waren angekettet. | |
Um das Almajiri-System zu ändern, hat es in den vergangenen Jahren immer | |
wieder vorsichtige Vorstöße gegeben. Doch nach Einschätzung von Mohammed | |
Sabo Keana, Gründer der Initiative für die Rechte des Almajiri-Kindes | |
(ACRI) fehlt die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Für die Kinder | |
sieht er den Staat, die Eltern und die Gesellschaft in der Pflicht. | |
6 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Gänsler | |
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